Protest gegen Bahnmisere: Sylt-Pendler blockieren die Züge
Nach fast einem Jahr Verspätungen und Ärgernissen platzt den Bahnfahrern zwischen Niebüll und Westerland der Kragen.
Mit der Aktion protestierten die Pendler gegen die seit knapp einem Jahr andauernden Einschränkungen auf der Bahnstrecke Hamburg–Niebüll–Sylt. „Wir haben diese Aktion gemacht, damit in die Republik rausschallt: Wir schaffen nicht noch mal 345 Tage“, sagt Achim Bonnichsen von der Pendlerinitiative.
Er und seine MitstreiterInnen ärgern sich über volle und schmutzige Züge, in die man schlecht einsteigen und in denen man kein Fahrrad mitnehmen kann – ganz abgesehen von Verspätungen und Zugausfällen. Die Pendler seien bisweilen 14 Stunden unterwegs, um acht Stunden bezahlte Arbeit zu leisten. „Irgendwann ist der Pendler kaputt“, sagt Bonnichsen. Das zeige sich nicht zuletzt am Krankenstand.
30 bis 50 Prozent der Beschäftigten auf der Insel pendeln vom Festland ein, schätzt der Verein Sylter Unternehmer. „Wir sind ein Magnet für Fachkräfte jenseits des Hindenburgdamms“, sagt Ronald Glauth von der Interessenvertretung. „Unsere Mitarbeiter, die vom Festland kommen, können nur mit der Bahn auf die Insel kommen“, so Glauth. „Sie haben keine Alternative.“ Der Verein forderte deshalb ein zweites Gleis und eine Fahrzeugreserve.
Im regionalen Schienenverkehr gilt das Bestellerprinzip: Die Länder bekommen Geld vom Bund und bestimmen selbst, welche Verbindungen sie damit finanzieren wollen.
Komplizierte Konstruktionen sind die Folge: In Schleswig-Holstein bestellt die Nahverkehrsgesellschaft Nah.sh im Auftrag des Landes.
Die jüngste Ausschreibung für den Bahnbetrieb hat die DB Regio gewonnen, die für die Loks und Waggons die Firma Paribus. Sie vermietet die Fahrzeuge an die DB Regio.
Für die Zweigleisigkeit setze sich auch das Land langfristig ein, sagt Birte Pusback vom schleswig-holsteinischen Verkehrsministerium. Das seien aber dicke Bretter, die hier zu bohren seien.
Das Ministerium, das über Nahverkehrsgesellschaft des Landes (Nah.sh) den Bahnverkehr nach Sylt in Auftrag gegeben hat, wundert sich über das Timing des bisher massivsten Protestes. „Ein Jahr lang Geduldsprobe ist eine Zumutung, das ist klar“, räumt Sprecherin Pusback ein. „Die Aktion der Pendlerinitiative kommt aber zu einem überraschenden Zeitpunkt, da sich gerade jetzt Besserung abzeichnet.“
Zwölf von 15 Zügen sind nach Angaben des Ministeriums, das sich wiederum auf die Bahnbetreiberin DB Regio beruft, wieder in Betrieb. Die drei übrigen sollen in den kommenden drei Wochen ebenfalls wieder fahren.
Des Weiteren seien sechs von 15 Lokomotiven bereits gründlich überholt worden und drei Ersatzloks im Einsatz. „Die verfügbaren Loks reichen für den Betrieb grundsätzlich aus“, versichert die Nahverkehrsgesellschaft. Ein Ausfallrisiko sei aber nicht komplett auszuschließen. Pendler-Aktivist Bonnichsen ist skeptisch und berichtet gleich von zwei Zugausfällen am Morgen noch vor der Blockade. Keiner wisse, ob die Reparaturen an den Loks hielten. Und das endgültige Gutachten über die Probleme an den Waggons liege auch noch nicht vor. An einem Waggon war die Kupplung abgerissen. Das Gutachten habe Korrosion und einen unterlassenen Wartungsschritt als Ursachen ausgemacht, sagt Dennis Fiedel, Sprecher von Nah.sh. Bei dem Gutachten fehle bloß noch eine Aussage darüber, wie lange die reparierten Kupplungen eingesetzt werden können, bis sie wieder überprüft werden müssen.
Zusätzliche Loks zu beschaffen, sei schwierig, sagt Fiedel. Sie müssten für den Personenverkehr geeignet sein, etwa indem sie einen Zug heizen könnten; sie bräuchten eine Zulassung für das deutsche Schienennetz und müssten die nötige Leistung bieten. Dafür gebe es kaum Angebote.
Lars Harms, der Fraktionsvorsitzende des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) erinnert daran, dass die FDP vor der Landtagswahl „den Tiefschlaf der Landesregierung beim anhaltenden Bahn-Chaos“ kritisiert habe. Jetzt stelle sie selbst seit mehr als vier Monaten den Verkehrsminister und passiert sei nichts: „Im Gegenteil, das Eskalationsniveau hat mit den heutigen Ereignissen ein neues Level erreicht“, stellt Harms fest.
Auch Uwe Polkehn, der Vorsitzende des DGB Nord, fordert den liberalen Verkehrsminister Bernd Buchholz auf zu handeln: „Die Pendler sind keine Touristen in Urlaubslaune, sondern Menschen, die tägliche verlässliche Verbindungen zu ihrem Arbeitsplatz brauchen“, sagt er. Die Jamaika-Koalition müsse Geld für ein Sofortprogramm locker machen und Konsequenzen für die nächste Ausschreibung ziehen.
Die Probleme mit den Kupplungen waren im November 2016 aufgetreten, als noch die Nord-Ostsee-Bahn (NOB) den Verkehr zwischen Hamburg und Sylt abwickelte. Die DB Regio gewann die neue Ausschreibung und musste sich als Erstes mit einem ausgefallenen Wagenpark herumschlagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW