Protest gegen AfD-Parteitag in Riesa: Demosanitäter landet im Krankenhaus
In Riesa wurde auch AfD-Chefin Alice Weidel blockiert. Die Polizei räumte die Straße, dabei wurde ein Demosani verletzt. So erlebte er die Situation.
Wegen seiner starken Schmerzen transportierte ihn kurz darauf ein Rettungswagen ab. Untersuchungen mit Ultraschall und Computertomographie ergaben: Beckers Milz war verformt und ein gefährlicher Riss nicht auszuschließen. Der Befund liegt der taz vor. Um sicherzugehen, behielten die Ärzt:innen ihn bis zum Sonntag um 14 Uhr zur Beobachtung auf der Station. Da sich sein Zustand verbesserte, durfte er gehen. Mittlerweile hat er einen Anwalt kontaktiert, um gegen die am Einsatz beteiligten Polizeibeamten zu klagen.
In den Tagen nach den Protesten gegen den AfD-Bundesparteitag mehren sich die Klagen über die Polizei. Organisator:innen und Beobachter:innen werfen den Beamten übermäßige Härte vor. Deutschlandweit berichten Medien über Polizeigewalt.
Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) hielt dem entgegen, die Polizei habe in „hitzigen Situationen“ mit robustem Handeln Ordnung durchgesetzt. Die zuständige Polizeidirektion Dresden verbucht den Einsatz zumindest als Erfolg. Sie habe den Protest in Sicht- und Hörweite ermöglicht und gleichzeitig die Anreise der Parteitagsdelegierten abgesichert.
Allerdings ermittelt genau diese Polizeidirektion gegen einen Beamten aus Niedersachsen wegen des Verdachts der Körperverletzung im Amt, weil er mutmaßlich den Landtagsabgeordneten Nam Duy Nguyen (Linke) niederschlug, der als parlamentarischer Beobachter die Proteste begleitete. Die Zentrale Polizeidirektion Niedersachsen teilte dazu am Donnerstag mit, dass sie die beteiligten Beamten identifizieren könne und die Namen an die Ermittler:innen in Dresden weitergeleitet habe.
Fälle wie dieser sowie auch der verletzte Demosanitäter Jens Becker werfen die Frage auf: War das Vorgehen verhältnismäßig?
Mit Pfefferspray und Schlagstöcken
Als am Samstag ein paar Minuten nach 10 Uhr zwei schwarze Audis mit Blaulicht und Polizeieskorte von einer Kreuzung in die Straße An der Klosterkirche im Osten Riesas einbogen, beobachtete Jens Becker vom Rand, wie sich ihnen mehrere Dutzend Aktivist:innen in den Weg stellten. In einem der Autos saß die AfD-Vorsitzende Alice Weidel. Sie war auf dem Weg zum Parteitag und schon spät dran: Der Beginn war um Punkt zehn geplant.
Bereits vor dem Wochenende hatte das bundesweite Bündnis Widersetzen öffentlich aufgerufen, Zufahrten zum Veranstaltungsort der AfD mit zivilem Ungehorsam zu blockieren. Genau das versuchten die Aktivist:innen offenbar, wie Videos zeigen und Zeug:innen berichten, und setzten sich vor die Autos auf die Fahrbahn. Die wenigen Einsatzkräfte der sächsischen Bereitschaftspolizei, die zuvor die MLPD-Kundgebung an der Kreuzung begleiteten, konnten sie nicht daran hindern.
Aus dem hinteren der beiden Audis stiegen unvermittelt Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) in schwarzen Anzügen aus. Ihr Auftrag: Weidel schützen. Dazu gehöre, erklärt ein Sprecher des BKA im Nachgang, die freie Ausübung des Mandates der Bundestagsabgeordneten Weidel sicherzustellen – auch ihre Teilnahme am Bundesparteitag. „Frau Weidel war im Fahrzeug an der Weiterfahrt in alle Richtungen gehindert“, sagte der Sprecher. Um ihre Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, hätten die eingesetzten Polizist:innen des BKA auch Mittel des unmittelbaren Zwangs angedroht und eingesetzt, wie es das Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes vorschreibe.
Was das in der Praxis heißt? Auf Videos ist zu sehen, wie die Beamten mit erhobenen Schlagstöcken den Aktivist:innen brüllend befahlen, sich von den Autos zu entfernen. Sie sprühten Pfefferspray, zerrten, schubsten, schlugen und traten. Die Aktivist:innen skandierten: „Wir sind friedlich, was seid ihr?“. Zwei lehnten sich kurz gegen den Kühlergrill des vorderen Audis, andere blieben mit tränenden Augen und hustend auf dem Boden liegen.
Während ein Teil der uniformierten Beamten unbehelmt die Straße sicherte, unterstützte ein anderer Teil die BKA-Personenschützer:innen und setzten unangekündigt Reizgas gegen die Aktivist:innen ein. Mehrfach stiegen die Personenschützer:innen des hinteren Audis wieder in ihren Wagen und dann doch wieder aus, um den Einsatz tonangebend und tatkräftig fortzuführen. Ein koordiniertes, zielgerichtetes Vorgehen, lässt sich auf den Videos davon nicht erkennen.
Vor dem Wochenende hatte die Polizei verkündet: Legitimer Protest stoße an seine Grenzen, wo er verhindere, dass andere ihre Grundrechte ausüben können. Sollte das vorkommen, werden die Beamten konsequent handeln. Die Leipziger Anwältin Anna-Maria Müller, die die Proteste in Riesa beobachtend begleitete, betont allerdings, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei kein „demokratischer Luxus, der in ‚dynamischen Einsatzlagen‘ dem polizeilichen Auftrag und Selbstbild handlungsfähiger Autorität zu weichen hat“. Die Frage, ob Gewalt zulässig und das mildeste Mittel zur Erfüllung der polizeilichen Aufgabe war, „schien sich bei dem Polizeieinsatz eher nur ausnahmsweise zu stellen“, kritisiert Müller.
Mit dem Knie in den Bauch
Auch Jens Becker erschreckte das Vorgehen der Beamten in Riesa. Nachdem er am Samstag in der Straße An der Klosterkirche die ersten Verletzungen wahrgenommen habe, sei er auf mehrere Polizeibeamte zugegangen und habe um Durchlass gebeten: „Ich würde gerne die Leute versorgen“. Er trug eine rote Weste mit der Aufschrift „Medizinische Versorgung“ und eine große orange Tasche, gefüllt mit Augenduschen und Verbandszeug. Der 20-Jährige macht derzeit eine Ausbildung zum Pflegefachmann, ist Mitglied beim Deutschen Roten Kreuz und begleite seit 2022 politische Versammlungen als freiwilliger Demosanitäter.
In Riesa ließ die Polizei Jens Becker jedoch nicht einfach durch. Stattdessen stieß ihm eine Polizistin in Uniform ihr Knie in den Bauch, so erzählt er es. Erst als er wiederholt betonte, eine neutrale Person zu sein, die sich um medizinische Versorgung kümmere, durfte er zu den Verletzten.
In Videos ist zu sehen, wie Becker danach von einer Stelle zur nächsten eilte, Hilfe anbot, Augen ausspülte und desorientierte Personen zur Seite nahm. Elf Verletzte habe er behandelt, erzählt er der taz: durch Pfefferspray gereizte Augen, eine Platzwunde, abgeschürfte Haut. Für zwei Personen rief er einen Rettungswagen, ihre Augen seien vom Pfefferspray so verklebt gewesen, dass seine Spülung nicht gereicht habe. Er selbst habe in der Zwischenzeit zunehmende Schmerzen im Bauchraum entwickelt und ebenfalls Pfefferspray abbekommen.
Währenddessen räumte die Polizei weiter mit großem Tumult die beiden Blockaden vor den Autos. Der Einsatz dauerte nur wenige Minuten, dann konnte der Konvoi um Weidel weiterfahren. Zurück blieben verwunderte Aktivist:innen, sächsische Polizist:innen, die sich sammeln mussten und mehr als ein Dutzend verletzte.
Jens Becker ging es sichtlich schlechter, berichten Zeugen später der taz. Wegen des Pfeffersprays litt der Demosanitäter unter Atemnot und seine Bauchschmerzen nahmen weiter zu. Doch erst als Becker gefragt wurde, ob er Hilfe brauche, ging er zum Rettungswagen. Weil die Rettungskräfte keine inneren Blutungen ausschließen konnten, fuhren sie den Demosani in die nahegelegene Elblandklinik. Für ihn endete der Einsatz an diesem Tag.
Aus der Polizeidirektion Dresden hieß es auf Anfrage der taz, sie habe noch keine Kenntnis vom Fall des Demosanitäters. Die Arbeit von solchen sei der Polizei zwar bekannt, aber sie bewerte diese nicht und es gebe auch keine Vorgaben im Umgang mit ihnen.
Allerdings dauert die Auswertung des Großeinsatzes noch an. Insgesamt waren am Samstag in Riesa etwa 4.000 Polizist:innen aus 12 Bundesländern im Einsatz. Sie leiteten inzwischen 70 Ermittlungsverfahren ein, unter anderem wegen Körperverletzung, tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und Nötigung. Zwei Personen wurden vorläufig festgenommen. Inwieweit danach durch die Polizei Verletzte versorgt wurden, beantworteten die Polizeidirektion Dresden und das BKA nicht.
Bislang richten sich die Ermittlungen neben dem mutmaßlich durch einen Polizeibeamten niedergeschlagenen Linken-Abgeordneten noch gegen einen weiteren Polizisten. Ein 35-jähriger sächsischer Beamter hatte am Samstag seinen Polizeihund auf einen Aktivisten geworfen und dabei „Fass!“ gerufen. Er steht unter dem Verdacht der versuchten Körperverletzung im Amt sowie der Sachbeschädigung und des Verstoßens gegen das Tierschutzgesetz.
Auch wenn Jens Becker den Einsatz am Samstag als erschreckend empfand, wolle er auf jeden Fall weiter als Demosanitäter arbeiten: „Es ist einfach wichtig, dass jemand für die medizinische Sicherheit bereitsteht.“
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