„Projekt 2038“ für Architekturbiennale: Rückwärts staunen
Die Architekturbiennale in Venedig wurde ins kommende Jahr verlegt. Was heißt das für den Beitrag des deutschen Pavillons „Projekt 2038“?
Wie geht man damit um, dass das Projekt, das man in der alten Normalität, im Vor-Corona-Leben, erdacht hatte, nicht kommt wie geplant, sondern aufs nächste Jahr verschoben wird: Soll man es kalt stellen, einfrieren, im nächsten Jahr wiederauftauen, ein bisschen Pfeffer drüber streuen und tun, als ob nichts wäre?
Diese Frage stellten sich Christopher Roth, Arno Brandlhuber, Olaf Grawert und Nikolaus Hirsch, Kuratoren des deutschen Pavillons der Architekturbiennale in Venedig, die abgesagt und ins nächste Jahr verlegt worden ist. Roth und Brandlhuber, die bereits für Filme wie „Legislating Architecture: Architecting after Politics“ zusammengearbeitet haben, hatten sich gemeinsam mit dem Architekten Nikolaus Hirsch, dem Mitbegründer der Architekturplattform e-flux, und dem Architekten und Städteplaner Olaf Grawert vorgenommen, aus Fiktion Realität werden zu lassen.
Ihr „Projekt 2038“ ging von einer Krise aus, die im Jahr 2023 die Welt zum Umdenken zwingen würde und in deren Folge die Art und Weise, wie wir denken, handeln, agieren, konsumieren, produzieren, planen und zusammenleben, von Grund auf neu zu denken sei. Architektur, im Konzept des Quartetts weit gefasst durch die Linse des Kurzfilms, denkt künftig Kategorien wie soziale Herkunft, Bildung und psychosoziale respektive soziologische Beziehungen mit und nimmt Abstand von einer ausschließlich ästhetischen Interpretation von Architektur.
Nun kam das Leben den Visionären zuvor: Die Krise ist keine Zukunftsvision mehr, sie ist da, in Form einer Pandemie, und greift in unser Leben und unseren Alltag ein. Was macht diese Zäsur namens Corona mit dem Projekt 2038? Welche Visionen ergeben sich aus dieser, unserer Gegenwart für die Zukunft? Welche Zukunft malen wir uns, ausgehend vom Coronajahr 2020, für das Jahr 2038 aus? Wird alles „noch mal gut gegangen sein“?
Ihr könnt aufatmen
Das zumindest postulieren die Kuratoren in ihrer nunmehr nicht physisch begehbaren, sondern ins Netz verlagerten Rückschau: Die in Kurzfilmen präsentierten, sich teils thematisch konterkarierenden Lösungsansätze auf die drängenden gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Problemen unserer Zeit vereint ein und derselbe Tenor: Ihr könnt aufatmen. Alles ist gerade noch mal gut gegangen.
Eine Gegenposition folglich zu den gut bekannten, weit verbreiteten düsteren Zukunftsdystopien, die regelmäßig das Ende der Welt prophezeien, nie jedoch das Ende des Konsums.
Der Blick des Teams 2038 schweift anders: Anstatt auf Angsteffekte setzen die Macher auf eine Erkenntnisschleife. Die Berichterstatter hoffen nicht bloß auf, sie wissen um den positiven Ausgang der Geschichte. Keiner der Kurzfilme verschwendet seine Energie darauf, Zuschauerinnen und Zuschauer mit Horrorszenarien zu konfrontieren, die erst- und vorrangig künftige Gefahren und Probleme aufdecken.
Glückliches Ende dank ausgeklügelter Entwürfe
Das Projekt 2038 schaut aus der Zukunft mit einer in der Gegenwart unbekannten Gelassenheit. Die Protagonisten geben grünes Licht: Unsere Geschichte nimmt ein glückliches Ende. Erkenntlich zeigen dürfen wir uns bei ausgeklügelten Entwürfen zahlreicher Architektinnen und Architekten, „die mit alten wie neuen Modellen und ganzheitlichen Ansätzen“ an jener Erfolgsstory beteiligt waren.
So sehen wir zum Beispiel, dass 2038 Wale im New Yorker Hudson River schwimmen und uns in der Zwischenzeit vertraut gewordene künstliche Intelligenzen zu unserem Wohl agieren, statt in großen Data Centern hinter verschlossenen Türen, manipuliert von unbekannter Hand, ihr Unwesen zu treiben.
Inwiefern Technik tatsächlich Initiator für mehr Freiheit und Mitgestaltungsmöglichkeiten sein kann und nicht bloß Mittel zum Zweck einer kontinuierlichen Kontrolle, erörtert der Kurzfilm von Audrey Tang, einer früheren taiwanischen Programmiererin, Hackerin und Ministerin.
Digitalisierung für das Gemeinwohl
Die Theoretikerin Francesca Bria, die über eine neue Art von Smart City nachdenkt, berichtet von einer Digitalisierung, die nicht die Interessen weniger (einflussreicher Internetkonzerne oder autoritärer Staaten) bedient, sondern dem Gemeinwohl dient.
Im Jahr 2038 erinnert man sich nur noch vage an eine Zeit der privatisierten Städte, in der sich der größte Teil des weltweiten Kapitals in den Händen von einem Prozent der Bevölkerung befand. Reichtum wird geteilt. Privatisierung von Reichtum ist eine Unsitte der Vergangenheit. Menschlichkeit ist angesagt, auch das hat die Coronakrise gezeigt. Trotz teils radikaler Einschnitte in die persönliche Freiheit ist es den Menschen gelungen, solidarisch und konstruktiv zu bleiben.
Brandlhuber, bekannt für eine Baukultur, die fortschreibt, statt abzureißen, versteht Architektur wie seine Kollegen als Akteur in einem Gesamtsystem, das weitsichtig arbeitet und soziale wie ökologische Gesichtspunkte in den Blick nimmt, statt sich in kurzsichtiger Manier als rein ästhetisches Medium zu verstehen.
Es bedarf keines rigorosen Niederreißens: Ein kluger Architekt weiß, wie er das Vorhandene ausweitet und kollektiv nutzt. Überhaupt kommt dem Partizipativ-Kollektiven seit Corona ein höherer Stellenwert als dem Repräsentativ-Elitären zu.
Ändert die Zukunft die Richtung?
Wirkt Corona als Paradigmenwechsel-Beschleuniger? Markiert die Krise einen jener historischen Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert? Welche Verantwortung muss jeder Einzelne übernehmen, damit es weitergeht (und es wird ja weitergehen, wie die Zukunftsmacher uns versichern)? Die Bürger, das steht fest, müssen Verantwortung übernehmen, in Prozesse und Entscheidungen eingebunden werden, um das Gefühl zu entwickeln, tatsächlicher Teil eines solidarischen Ganzen zu sein und Einfluss zu haben.
Ebenso wichtig wie ein einvernehmlicher, allen zugänglicher Umgang mit Daten und Technik ist die menschlich-soziale Komponente. So stellt etwa Joanna Pope ihre Theorie des „Degrowth“ vor; Baubotaniker erzählen darin aus der Zukunft vom Modell des „mitwachsenden“ Hauses, nicht bloß im metaphorischen, sondern im konkreten Sinne: Die Fassaden der Häuser sind Bäume.
Vermittelt wird die Idee einer „gewachsenen“ Architektur, die sich und ihre Aufgabe neu definiert: Nicht mehr als Aufgabe rein ästhetischer Art, vielmehr steuern ökologische Fragen die Planung; das neue Nachdenken über Architektur gebraucht das Verb „architektieren“. Das Projekt 2038 befreit die Zukunft aus ihrer Angststarre und verhilft ihr zu neuer Lebendigkeit und Heiterkeit.
Videokonferenzen als Erfolgsmodell
Und nächstes Jahr? Was wird zu sehen sein im deutschen Pavillon? Die geplante Rückschau aus dem Jahr 2038, ergänzt um krisenbildende sowie gesellschaftsfördernde Faktoren der Coronapandemie wie die Ära des Homeoffice, die Phantomtheater, zu kurz greifende Hilfspakete, sterbende Kinos und virtuelle Begegnungen?
Da wären zum Beispiel die Videokonferenzen, begleitet von der Einsicht – ganz gleich, ob sie alteingesessenen Digitalpessimisten immer noch widerstrebt –, dass sich viele Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis als praktikabel und produktiv erweisen und dass eben nicht immer und überall ein Businessflieger bestiegen werden muss.
Roth und sein Team wollen ihren Rückblick aus der Zukunft jedenfalls nicht ungesehen in der Schublade vermodern lassen: Sie nutzen die Vorzüge ihrer Zeit, Websites und Onlinemedien wie den Online-Auftritt des Kunstmagazins Arts of The Working Class sowie die Architekturzeitschrift Arch+, um ihre Weltumbaumodelle und theoretischen Pflaster, die sich angesichts der aktuellen Krise pointierter geben denn je, zu veröffentlichen.
Das Narrativ der Zukunft, frohlockt man bei der Betrachtung jener Kurzfilme, ist keine Apokalypse. Es ist ein Neuanfang.
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