Pro-Brexit-Proteste in London: In Feindesland
Am Tag, an dem Großbritannien die EU doch nicht verlassen hat, füllen Brexiteers das Regierungsviertel. Es gibt zwei getrennte Kundgebungen.
Wie beim Referendum von 2016 standen sich auch diesmal zwei Pro-Brexit-Veranstaltungen im Regierungsbezirk gegenüber. Die von Nigel Farage mitangeführte Gruppe „Leave Means Leave“ hatte für diesen Tag den Abschluss ihres 14-tägigen Protestmarsches quer durch England geplant – eigentlich sollte dieser 29. März der letzte Tag der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens sein.
Dann entschied sich Farages einstige Partei Ukip (United Kingdom Independence Party) zu einem eigenen Protest.
Farage war im Dezember aus Ukip ausgetreten, aus Protest gegen das neuerdings ultrarechte und islamophobe Auftreten der einst lediglich EU-feindlichen Partei unter ihrem neuen Chef Gerard Batten. Der hat den Rechtsextremisten Tommy Robinson (echter Name Stephen Yaxley-Lennon), mehrfach vorbestrafter Führer des nicht mehr bestehenden Schlägertrupps „English Defence League“, zum Berater gemacht.
Am Freitag sprach Robinson also erstmals auf der Londoner Regierungsmeile Whitehall auf der Ukip-Bühne, während einen Katzensprung davon entfernt vor dem Parlament Nigel Farage, Kate Hoey von Labour und Leave-Means-Leave-Gründer John Longworth vor einem Meer britischer Unionsfahnen auftraten.
Auch einige französische Gelbwestenfahnen und ein paar gelbe der Identitären Bewegung konnten gesichtet werden.
Im blauen Maßazug beklagte Farage, dass dieser Tag kein Feiertag wurde. „Die Geschichte wird diesen Tag als den des großen Betrugs markieren“, behauptete er. Die letzten zwei Jahre seien das traurigste und schlimmste Kapitel der Nation.
![](https://taz.de/picture/3355293/14/Angela_Meads__75_und_ihre_Kinder___Ich_bin_fuer_Leave_und_fuer_Farage_hier_Er_ist_mein_Held_Robinson_ist_zu_rechts_.jpeg)
Angela Meads aus Dorset im Westen Englands ist gerade wegen Farage hierher gekommen. „Er ist mein Held, er müsste Premierminister sein, dann wären wir jetzt aus der EU raus“, schwärmte sie. Die 75-jährige hat sich von ihren Kindern extra nach London fahren lassen, obwohl sie im Rollstuhl sitzt. „Ich wollte klarstellen, dass wir aus der EU austreten müssen.“
Die Londonerin Venetia Taylor, 40, ist mit ihren Kindern auf eiFahrrad gekommen, bekleidet mit einem T-Shirt mit der Aufschrift „WTO Rules“ – das steht für einen No-Deal-Brexit, bei dem Großbritanniens Handel mit der EU lediglich den Regeln der Welthandelsorganisation unterliegt.
„Wenn Remain beim Referendum gewonnen hätte, hätte ich klein beigegeben, aber das war nicht der Fall“, sagt sie. Ihre Angst ist, dass die Demokratie einfach zur Seite geschoben wurde, „Die EU ist nicht das gleiche wie Europa!“
Mit dabei sind auch Menschen wie Sam Ayumu, 54, ein Brite aus Uganda. Er sei für den Brexit, damit ein unabhängiges Großbritannien fair mit afrikanischen Ländern handelt, sagt er. „Die großen Summen von Entwicklungshilfe schaden uns. Sie verdonnern uns zur Armut und Ausgesetztheit und es ist das, was dann die Flüchtlingswelle anspornt“, glaubt er.
Schließlich stimmen die Demonstranten Hymnen des britischen Patriotismus an. „I Vow to Thee My Country“ und „Rule Britannia“ schallt aus den Lautsprechern vor dem Parlament.
Oben in Whitehall spuckt derweil Tommy Robinson große Töne. Er bezeichnet Westminster, das britische Regierungsviertel, als Feindesland. Lautes Gegröle vieler teils betrunkener Leute tönt ihm entgegen, fast wie bei einem Fußballspiel. „Brexit!“, „Out!“, „Freedom!“ lautet das Geschrei. Wodka-, Wein- und Sektflaschen liegen verstreut auf dem Boden, hier und da sind violette Ukip-Fahnen zu sehen.
Das alles liegt auch an der Anwesenheit der „Football Lads Alliance“, einer inzwischen als rechtsextrem eingestuften Gruppe von Fussballfans gegen islamistischen Extremismus. Dennoch herrscht keine bösartige Stimmung, obwohl manche Typen mit ihren Muskeln und Tätowierungen nicht gerade freundlich erscheinen, wenn sie „Verrat! Verrat!“ rufen und die Politiker*Innen damit meinen.
Manche sitzen sogar auf Campingstühlen in der Sonne, als wäre es ein Picknick. Es sind Klempner, Pflegekräfte, Hausmeister, Arbeiter.
Einige machen Fotos von Kerozia Roussh, 31, aus Ostlondon, die hier mit ihren Kindern steht. Ihre dunkle Hautfarbe lässt sie aus der Menge fallen. Roussh ist Krankenpflegerin, ihre Eltern seien nach England eingewandert, um hier als Krankenpfleger zu arbeiten, erzählt sie. „Ich will Brexit, damit keine Migranten ins Land kommen, die nicht arbeiten wollen, anders als die Generation ihrer Eltern.“
Deen Brockley, 45, aus Wigan findet, dass Tommy Robinson zum Ausdruck bringt, was er auch fühle. „Ich bin kein Rassist“, betont er gleich zweimal. „Aber dies ist mein Land, und es ist einfach nicht richtig, dass 27 andere Staaten das Sagen darüber haben.“ Er erzählt davon, wie sein Vater unter Thatcher Bergarbeiter war und dass man Gemeinschaften wie seine vergessen habe.
„Das Problem ist, dass die Immigration der letzten Jahre zu schnell anstieg, zu schnell für Integration,“ sagt er. „Ich habe Angst, dass wenn es so weitergeht, Leute tatsächlich rassistisch werden können.“
Während er mit der taz spricht, raten ihm Umstehende, nicht mit Journalisten zu sprechen. „Die haben uns auch verraten“, ruft ein Mann.
Die Demonstranten beider Veranstaltungen verflüchtigen sich schließlich rasch in den abendlichen Straßen Londons. Einige fallen mit ihren Fahnen und T-Shirts und ihrem Alkoholpegel unter den smart bekleideten Londoner*innen auf. Andere finden Aufnahme in den übervollen Kneipen der Stadtmitte.
Jane Hill, 62, ist auf dem Nachhauseweg. Die pensionierte Fahrschullehrerin lebt in Manchester. Sie nahm am Leave-Protest teil. Wussten Menschen wie Hill nicht, was sie taten, als sie Brexit wählten?
„Quatsch, Menschen wie ich wählten Brexit entgegen all den schlimmen Prophezeiungen, vor denen die Remain-Gruppen uns warnten“, sagt sie. Ihre Sorge ist jetzt eine andere: zerbrochene Beziehungen zu Freunden und Familien wegen des Referendums.
„Ich weiß nicht, wie das gespaltene Land wieder zusammen finden kann“, bedauert sie. „Nein, ich habe keine Ahnung, wie wir wieder zusammenkommen können.“
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