Pressefreiheit: Justiz vor dem Referendum
Die türkische Staatsanwaltschaft fordert lange Haftstrafen für die elf inhaftierten Journalisten der Tageszeitung „Cumhuriyet“. Ihre Begründung ist dünn.
In der Türkei erlebt das Justizsystem kurz vor dem Referendum eine der wichtigsten Brüche. Nachdem der bekannte Journalist Murat Aksoy und der Musiker und Kolumnist Atilla Taş in der vergangenen Woche von einem Gericht freigelassen wurden, wurde es zum Ziel der AKP-nahen Journalisten. Mit der Amtsentfernung der für die Entlassung zuständigen Richter*innen bezeugte die Judikative der Regierung ihre Verbundenheit. Dieser Probelauf zeigt jedenfalls, wie es nach dem Referendum um das Justizsystem bestellt ist. Für unsere 11 inhaftierten Kollegen und ihr Fall, der erst in fünf Monaten vor Gericht verhandelt wird, ist unklar, ob und wie der Druck auf die Gerichte sich auf das Verfahren auswirken wirkt.
Fünf Monate nach ihrer Inhaftierung wurde für elf Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet, die sich derzeit unter harten Haftbedingungen in der Strafvollzugsanstalt in Silivri befinden, eine Anklageschrift erstellt. Die Staatsanwaltschaft fordert nun zwischen 15 und 43 Jahre Haft. Als Beweise werden Tweets und Berichte der Journalisten angeführt, dass sie der „Fethullahistischen Gülen-Terror-Organisation“ (FETÖ) und der PKK/KCK (Koma Civakên Kurdistan, Dachorganisation der PKK) nahestehen und in ihrem Namen agieren.
Ein Vorwurf ist, über Umweltschutz Sympathie und Anerkennung für die PKK zu erzeugen: Cumhuriyet-Mitarbeiterin Ayşe Yıldırım veröffentlichte am 2. Juni 2015 ihre Notizen zum Interview mit dem Kovorsitzenden der PKK/KCK, Cemil Bayık aus Kandil im Irak. Yıldırım schrieb, dass es in Kandil wichtig sei, „sich respektvoll in der Natur zu bewegen. In der freien Natur werden nicht einmal Zigarettenkippen auf den Boden geworfen. Den Dorfbewohnern im Tal ist es untersagt, Bäume nach Lust und Laune zu fällen.“
Apps fungieren als Beweise
geboren 1987. Journalistin bei der Cumhuriyet, seit 2013 Gerichtsberichterstatterin. Coşkun schreibt über die Korruptionsermittlungen sowie die Ermittlungen gegen die Gülen-Bewegung und beschäftigt sich mit der Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei. Wegen ihrer Artikel laufen zahlreiche Gerichtsverfahren gegen Coşkun.
Für die beiden Staatsanwält*innen Mehmet Akif Ekinci und Yasemin Baba ist das eine Sympathiebekundung für die Terrororganisation. Als Beweismittel für die Mitgliedschaft in der FETÖ werden verschlüsselte Messengerdienste wie ByLock und Eagle angeführt. Wenn einer der Angeklagten diese Apps nicht nutzte, wird ihnen vorgeworfen, sich mit Personen unterhalten zu haben, die ByLock benutzt haben. Offen gesagt: Wenn Sie jemanden anrufen würden, wüssten Sie, welche Apps er nutzt? Natürlich nicht.
In der Anklageschrift steht,dass sich mit der Übernahme des Cumhuriyet-Chefredakteurspostens durch Can Dündar am 8. Februar 2015 die Redaktionslinie radikal geändert habe. Zudem wird angeführt, dass Dündars Berufung auf den Posten als Chefredakteur von „unparteiischen“ Beobachtern als „interessant“ angesehen werde. Dass die Staatsanwält*innen in diesem Falle den Journalisten und AKP-Aktivisten Cem Küçük als Zeugen anführen, zeugt ebenfalls von der alles andere als unparteiischen Ausrichtung der Gerichte: Cem Küçük war es, der am Tag der Entlassung von Murat Aksoy und Atilla Taş das entlassende Gericht via Twitter beschimpfte und bedrohte.
Keine Verbindung zu FETÖ? Dann eben DHKP-C
In der Anklageschrift befinden sich ebenfalls Anschuldigungen gegen den seit knapp 100 Tagen inhaftierten Cumhuriyet-Reporter Ahmet Şık. Dieser war 2011 zusammen mit dem ehemaligen Generalstabschef İlker Başbuğ und weiteren Militäroberen, Journalist*innen und Akademiker*innen im Rahmen der „Ergenekon“- Ermittlungen über ein Jahr lang in Haft. Die Begründung lautete damals, er wolle die Regierung stürzen.
Im Dezember 2016 wurde Şık mit dem Vorwurf inhaftiert, Propaganda für die Gülen-Bewegung betrieben zu haben, von der es heißt, dass sie damals mittels der Ergenekon-Ermittlungen eine Verschwörung gegen die Regierung plante. Trotzdem erwähnen die Staatsanwält*innen in der Anklage den Vorwurf von damals nicht. Stattdessen ist nun von „Propaganda für die DHKP-C“(marxistisch-leninistische Untergrundorganisation in der Türkei) die Rede, ein Vorwurf, der in der Anklage bis dahin mit keinem Satz erwähnt wurde.
Nun liegt es am Gericht, ob es der Anklageschrift stattgibt. Dann kann es darüber entscheiden, ob die elf Cumhuriyet-Journalisten entlassen werden oder weiter in Haft bleiben müssen. Die Chancen für eine Entlassung stehen nicht gut: Die Richter, die vergangene Woche Murat Aksoy und Atilla Taş aus der Haft entließen, sind mittlerweile aus dem Amt entfernt worden.
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