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Präsidentschaftswahlen in ChileEine Linke gegen drei Diktaturverherrlicher

Bei den Wahlen in Chile am Sonntag tritt die Linke Jeannette Jara an. Wer ist sie? Und kann sie sich gegen die Kandidaten der Rechten behaupten?

Jeannette Jara (rechts) und ihre AnhängerInnen am 16. November in Santiago de Chile Foto: Pablo Sanhueza/reuters

Aus Santiago

Sophia Boddenberg

Auf der Plaza de Maipú am südwestlichen Stadtrand von Chiles Hauptstadt Santiago wehen chilenische Nationalflaggen, Flaggen der indigenen Mapuche und Regenbogenfahnen. Etwa 12.000 Menschen haben sich hier zusammengefunden, um auf die linke Präsidentschaftskandidatin Jeannette Jara zu warten. Bevor sie auf die Bühne tritt, spielen Rock-, Cumbia- und Hip-Hop-Bands.

Unter Scheinwerferlicht tritt sie mit ihrem pinkfarbenen Hosenanzug auf die Bühne und schickt Luftküsse ins Publikum, bevor sie das Mikrofon ergreift. Die Rufe aus dem Publikum übertönen ihre Stimme, weshalb sie immer wieder neu ansetzen muss: „¡Se siente con fuerza, Jara presidenta!“ (Man spürt es, mit Kraft, Jara Präsidentin!).

Jara ist im Ar­bei­te­r*in­nen­vier­tel Maipú zu Hause – sowohl persönlich als auch politisch. Hier regiert der linke Bürgermeister Tomás Vodanovic, ein 35-jähriger Soziologe, der 2024 mit einem historisch hohen Stimmenanteil von 70 Prozent gewählt wurde. Und Jara hat selbst mehrere Jahre hier gelebt.

„Es ist ungewöhnlich, dass jemand aus Maipú die Türen des Regierungsgebäudes öffnet“, sagt sie, die Menge jubelt. „Wir werden dafür sorgen, dass jede Familie in Chile über die Runden kommt. Das ist mein Regierungsversprechen!“ Es ist ihre letzte Wahlkampfveranstaltung in der chilenischen Hauptstadt vor der Präsidentschaftswahl am 16. November.

Wahlkampf im MAGA-Stil

Etwa 15 Kilometer entfernt in der Movistar Arena im Zentrum von Santiago, einer Mehrzweckhalle mit etwa 12.000 Sitzplätzen, inszeniert sich der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast bei seiner Abschlussveranstaltung im Stil von Donald Trump auf einer Bühne, im Hintergrund zeigt ein Bildschirm chilenische Nationalflaggen. Er selbst trägt einen dunklen Anzug mit weißem Hemd und roter Krawatte, er hat sich eine kleine Flagge ans Sakko gepinnt.

Er spricht über die Angst im Land, über die „Sicherheitskrise“, über Gewalt gegen Po­li­zis­t*in­nen und Migration. „Chile ist zu Großem bestimmt“, sagt er ganz im MAGA-Stil. Einen erheblichen Teil seiner Ansprache widmet er direkten Angriffen auf Jeannette Jara: „Jara ist Arbeitslosigkeit, Jara ist Migration, Jara ist Gewalt“, ruft er. „Jara ist die Kontinuität einer gescheiterten Regierung!“

Am Sonntag wählt Chile einen neuen Präsidenten oder eine neue Präsidentin, 155 Kongressabgeordnete und die Hälfte der 50 Senatsmitglieder. Insgesamt treten acht Kan­di­da­t*in­nen bei der Wahl an, aber nur vier von ihnen haben realistische Chancen, in die Stichwahl zu ziehen.

Den letzten veröffentlichten Umfragen von Plaza Pública Cadem zufolge würde die linke Kandidatin Jeannette Jara etwa 30 Prozent der Stimmen erhalten, gefolgt von den rechten Kandidaten José Antonio Kast mit 22 Prozent, Johannes Kaiser (15 Prozent) und Evelyn Matthei (14 Prozent). Höchstwahrscheinlich wird es zu einer Stichwahl zwischen Jeannette Jara und einem der rechten Kan­di­da­t*in­nen kommen – die zweite Runde würde am 14.12. stattfinden.

Seit rund 15 Jahren wechseln sich linke und rechte Regierungen in Chile ab – ein Muster, das zeigt, dass viele Menschen bei Präsidentschaftswahlen eher „gegen“ als „für“ Kan­di­da­t*in­nen stimmen. Eigentlich müsste das Pendel nun wieder nach rechts ausschlagen. Aber diese Wahl hat eine Besonderheit: Es ist die erste Präsidentschaftswahl seit der Wiedereinführung der Wahlpflicht 2022. Die fünf Millionen Neu­wäh­le­r*in­nen könnten die Wahl entscheiden – und sie sind besonders frustriert und enttäuscht von der Politik.

„Wir haben eine sehr misstrauische Gesellschaft“, sagt Octavio Avendaño, Politikwissenschaftler der Universidad de Chile. „Es wird entscheidend sein, welcher Kandidat es schafft, sich mit der Unzufriedenheit der Menschen zu verbinden.“ Während die rechten Kan­di­da­t*in­nen in ihrem Wahlkampf Angst vor Kriminalität und Migration schüren und Sicherheit versprechen, versucht Jeannette Jara mit Bürgernähe zu überzeugen.

Etwa einen Monat vor den Abschlussveranstaltungen der Wahlkämpfe, im Oktober 2025, stellt Jara im Innenhof der Universidad Academia de Humanismo Cristiano in Santiago de Chile ihre Biografie vor: „Jeannette“. Darin erzählt sie von ihrer Kindheit in der Población El Cortijo, einem Armenviertel am Stadtrand der Hauptstadt. Dort wuchs sie als Älteste von fünf Geschwistern auf, Tochter eines Mechanikers und einer Hausfrau, in einem einfachen Holzhaus mit nur einem Zimmer und ohne Trinkwasserleitung. Mit 13 Jahren begann sie als Erntehelferin zu arbeiten. Wenig später trat sie der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei bei.

Anders als die meisten Po­li­ti­ke­r*in­nen in Chile stammt sie aus der Ar­bei­te­r*in­nen­klas­se und erwarb trotzdem zwei Universitätsabschlüsse. Die 51-Jährige betont immer wieder, dass sie weiß, was es heißt, hart zu arbeiten. „Mein Leben ähnelt dem vieler Frauen in unserem Land, die es nicht einfach haben, aber mit Überzeugung und Tatkraft vorankommen“, sagt sie bei der Buchvorstellung. Eine Gruppe Gewerkschafterinnen ruft ihr begeistert zu, die Frauen wollen ein Foto mit ihr machen.

Die Überraschungskandidatin

Jara war Arbeitsministerin in der Regierung des amtierenden linken Präsidenten Gabriel Boric und war den meisten Menschen eher unbekannt, bevor sie im Juni überraschend die Vorwahlen der Linken mit 60 Prozent der Stimmen gewann. Sie ist die erste Präsidentschaftskandidatin der Kommunistischen Partei, die eine linke Koalition anführt, seit der Rückkehr zur Demokratie 1990.

Ihre Koalition umfasst ein breites Spektrum von Mitte-links-Parteien, von der Frente Amplio, der auch Präsident Boric angehört, bis zu den Christdemokraten. Als Arbeitsministerin setzte sie sich dafür ein, die gesetzliche Wochenarbeitszeit von 45 Stunden schrittweise auf 40 Stunden zu reduzieren, der Mindestlohn wurde deutlich angehoben, und sie trieb eine Rentenreform voran.

Auch als Präsidentin will Jara will sich für die Rechte der arbeitenden Bevölkerung einsetzen. Sie will die Gehälter schrittweise auf einen ingreso vital, einen „lebenswürdigen Lohn“, von 750.000 Pesos (etwa 700 Euro) im Monat steigern. Daten der gewerkschaftsnahen Fundación Sol zufolge verdient derzeit die Hälfte der Chi­le­n*in­nen weniger als 500.000 Peso monatlich. Außerdem will sie den Sozialstaat stärken, insbesondere das öffentliche Gesundheitssystem.

Die Nähe zur Regierung bringt sie in einen Zwiespalt: Einerseits kann sie auf Erfolge als Arbeitsministerin verweisen, andererseits könnten Wäh­le­r:in­nen den Frust gegenüber der Regierung auf sie projizieren. Die Zustimmung für Boric geht nicht über 30 Prozent hinaus, viele machen ihn für Kriminalität im Land verantwortlich, andere sind davon enttäuscht, dass er nicht wie angekündigt tiefgreifende soziale Reformen durchgeführt hat. Zudem scheiterte während seiner Amtszeit der Versuch, eine neue Verfassung zu verabschieden und die alte aus der Pinochet-Diktatur zu ersetzen.

Drei Diktaturverherrlicher

Im Gegensatz zur Linken, die vereint hinter Jara in die Wahl zieht, tritt die Rechte mit drei Kandidaten an: José Antonio Kast, Evelyn Matthei und Johannes Kaiser. Sie alle haben gemeinsam, dass sie von deutschen Einwandererfamilien abstammen und die Pinochet-Diktatur verherrlichen. Matthei und Kaiser haben dieselbe deutsche Urgroßmutter.

José Antonio Kast, Vorsitzender der rechtsextremen Republikanischen Partei, warb als junger Mann vor dem Referendum 1988, das zum Ende der Pinochet-Diktatur führte, für ihren Fortbestand. Evelyn Matthei, die das rechte Zentrum vertritt, bezeichnete den Putsch von 1973 in der Vergangenheit als „notwendig“ und die Toten als „unvermeidlich“. Der libertäre Ultrarechte Johannes Kaiser hat angekündigt, wegen Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur Verurteilte zu begnadigen, wenn er gewählt werden sollte.

José Antonio Kast, Abtreibungsgegner und fundamentalistischer Christ, der schon zum dritten Mal als Präsidentschaftskandidat antritt, hat seinen Diskurs in den vergangenen Monaten moderater gestaltet, um seine Wäh­le­r*in­nen­schaft im konservativen Zentrum zu vergrößern. Damit hat er Platz am rechten Rand für den Rechtslibertären Johannes Kaiser freigemacht, dessen Zustimmungswerte kontinuierlich gestiegen sind.

Er präsentiert sich als eine Art „chilenischer Milei“. Sein Bruder, Axel Kaiser, ist Mitarbeiter der argentinischen Fundación Faro, einer libertären Stiftung, die eng mit dem Umfeld des argentinischen Präsidenten verbunden ist. Der Präsidentschaftskandidat hat angekündigt, aus dem Pariser Klimaschutzabkommen auszutreten, die Grenze zu Bolivien zu schließen, und beruft sich ähnlich wie Milei und Trump immer wieder auf den „Kulturkampf“. Sowohl Kaiser als auch Kast wollen die staatlichen Ausgaben kürzen, inspiriert von der Kettensägenpolitik im Nachbarland Argentinien.

Sollte einer der beiden rechtsextremen Kandidaten die Präsidentschaftswahl in Chile gewinnen, erwartet der Politikwissenschaftler Avendaño eine weitere Schwächung der demokratischen Strukturen. „Die Zivilgesellschaft ist zersplittert und kaum organisiert. Sie wird also kein Gegengewicht zu einer solchen Regierung darstellen“. José Antonio Kast hat angekündigt, im Falle eines Wahlsiegs mit einer Notstandsregierung zu regieren.

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