Präsidentschaftswahl in Südkorea: Neuanfang in Seoul
Südkorea hat nach den Wahlen eine Chance, zur Ruhe zu kommen. Noch sind die Hürden für den künftigen Präsidenten Lee Jae Myung groß.
F ür eine Demokratie, die noch vor wenigen Monaten tief in den Abgrund blickte, zeigte sich Südkorea überraschend lebendig: Knapp 80 Prozent aller stimmberechtigten Südkoreaner nahmen an der Präsidentschaftswahl teil. Das ist die erfreuliche Nachricht aus dem ostasiatischen Tigerstaat: Dass die Bevölkerung, so zerstritten sie auch sein mag, ihr Recht auf freie Wahlen nutzt. In Südkorea wird die noch junge Demokratie eben nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet, sondern als hart erkämpfte Errungenschaft.
Die schlechte Nachricht ist: Der voraussichtliche Wahlsieger Lee Jae Myung steht vor nahezu unmöglichen Aufgaben. Neben den realen Problemen, die lahmende Wirtschaft und außenpolitische Herausforderungen, muss der 61-Jährige dafür sorgen, eine funktionale Regierung auf den Weg zu bringen. Die Gefahr, erneut in einer Pattsituation mit einer sich querstellenden Opposition festzustecken, ist groß. Es ist unübersehbar, dass nicht nur die Bevölkerung des Landes immer tiefer gespalten ist.
Auch innerhalb des Politbetriebs ist die Fähigkeit zu Dialog und Kompromiss zunehmend verkümmert. Stattdessen dominiert ein vereinfachendes Schwarz-Weiß-Denken auf beiden ideologischen Seiten. Angefeuert wird dieses aufgeheizte Klima durch die Marktschreier auf den sozialen Medien, wo sich immer mehr Südkoreaner aller Altersgruppen ihre politischen Nachrichten besorgen.
Doch Influencer blenden ihr Publikum mit teils abstrusen Fake News: Da werden die Linken als Spione für die kommunistische Partei Chinas gebrandmarkt und die Konservativen als Inkarnation der alten Militärdiktatoren porträtiert. Die Faktenlage spielt letztlich nur eine untergeordnete Rolle. Südkoreas Demokratie steht an einem Gabelpunkt, den auch viele westliche Demokratien erreicht haben: Die politischen Ränder radikalisieren sich, die Menschen vergraben sich in ihren Echokammern.

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Der jetzige Neuanfang mit Lee Jae Myung als Präsident fühlt sich auch wie eine letzte Chance an, das Land in ruhigere Fahrwasser zu führen. Die Aussichten dafür sind zugegebenermaßen alles andere als gut.
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