Posy Simmonds über ihre Graphic Novels: „Was für ein Schatz!“
Posy Simmonds ist die große alte Dame der britischen Graphic Novel. Die Chronistin der Mittelschichten spricht über ihr Werk.
Die ältere Frau mit der Pelzmütze, dem dicken Wintermantel und der Brille sieht – von ihrer Leibesfülle einmal abgesehen – eigentlich recht harmlos aus. Allerdings irritieren die schreiend gelben Reinigungshandschuhe, die sie über die Hände gezogen hat. Und in der einen Hand hält sie eine Pistole, den Finger am Abzug.
Das Cover der Graphic Novel „Cassandra Darke“ zeigt eine Frau, die die Betrachter*innen direkt ansieht, vielleicht gar zu bedrohen scheint. In jeden Fall wirkt es ungewöhnlich. Entworfen hat es die englische Comic-Autorin Posy Simmonds, die sich gerade auf Lesereise in Deutschland befindet.
Die 74-Jährige ist selbst das genaue Gegenteil ihrer gezeichneten Titelheldin: schlank und eher zierlich. Die Comicfigur Cassandra Darke wirkt etwas plump und schwerfällig, ist eine Einzelgängerin und meist barsch zu ihren Nächsten. Posy Simmonds ist hingegen sehr höflich, bei einem Treffen in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs sagt sie, ohne jeglichen Akzent: „Entschuldigen Sie bitte mein schlechtes Deutsch.“
Simmonds sagt, im Weiteren auf Englisch, sie sei gern in Berlin. „Ich liebe die vielen Museen und Ausstellungen.“ Doch für diese wird sie dieses Mal kaum Zeit haben. Posy Simmonds hat von ihrem deutschen Verlag Reprodukt ein dichtes Programm verordnet bekommen. Am Abend hat sie ein Podiumsgespräch, danach geht es weiter nach Frankfurt und München. Also kommen wir im Gespräch schnell zum Kern ihrer Tätigkeit, dem Comiczeichnen.
Mit Leidenschaft erzählt sie von ihrer Kindheit in einem Dorf in Berkshire, einer Grafschaft westlich von London, wo sie 1945 geboren wurde. Zu Hause las man „anspruchsvolle“ Literatur, aber eben auch die satirische Zeitschrift Punch. Auch die US-Comics entdeckte sie schon früh: „Es gab eine Airbase in der Nähe, befreundete Kinder der GIs dort brachten viele Comics mit und liehen mir diese aus. Darunter waren ‚Superman‘, ‚Batman‘, ‚Micky Maus‘, alles Mögliche.
Ein Kind schenkte mir damals sogar eine ganze Kiste voll. Was für ein Schatz!“. Darunter waren auch Hefte des „berüchtigten“ EC-Verlags, die Mitte der 1950er Jahre in den USA auf den Index gesetzt wurden – Horror- und Mordstorys, die als „Schund“ gebrandmarkt wurden. Posy Simmonds las auch diese. „Einmal erwischte mich meine Mutter mit einem solchen Heft. Da wurde ein Mann von einer Olivenpresse zerquetscht. Meine Mutter schrie auf: ‚Grauenvoll!‘ “
Heute fällt die Bewertung der EC-Comics allgemein anders aus. Sie hatten einen hohen Textanteil und eine relativ hohe literarische Qualität. Was wiederum zu Simmonds eigenen Arbeiten führt. Bereits 1969 hat die Autorin erste Comicstrips für die britische Boulevardzeitung The Sun gezeichnet. Seit den frühen 1970ern arbeitete sie für die in London erscheinende Tageszeitung The Guardian.
Comic für das linksliberale Milieu
Und hier entwickelte sie auch ihren typischen Stil. Insbesondere durch „The Silent Three of St Botolph’s“, einem wöchentlichen humoristischen Strip um drei Freundinnen in mittleren Jahren und einen Uni-Professor wurde sie bald in ganz Großbritannien bekannt. „Die Vorgabe des Guardian damals war, den Comic im linksliberalen Milieu seiner Leserschaft anzusiedeln.“
Und so wurde Posy Simmonds zur Chronistin der englischen Middle Class. „Es gibt nicht viele Comics über die Mittelschicht. Heutzutage ist dieses Milieu am Verschwinden: Die Mieten steigen derartig, dass Studenten, auch die Mittelklassekinder, sie sich nicht mehr leisten können.“ 1981 wurde sie als „Cartoonist of the Year“ ausgezeichnet.
Parallel schuf sie auch zahlreiche Kinderbücher. Etwa „Die Katze des Bäckers“ oder „Fred“ (das auch verfilmt wurde), sie wurden auf Deutsch im Diogenes Verlag veröffentlicht. Erst 1999 zeichnete Posy Simmonds ihre erste längere Graphic Novel, „Gemma Bovery“, eine ironische, moderne Variante des Klassikers „Madame Bovary“ von Gustave Flaubert.
Eigenes Genre geschaffen
Simmonds schuf ihr eigenes Genre, indem sie längere literarische Passagen mit Illustrationen und kurzen oder längeren Comicteilen verband. „Das lag auch an der Publikationsform: Im Guardian wurde die Geschichte als wöchentlicher Fortsetzungscomic abgedruckt. Ich versuchte in jeder Folge, so viel Handlung wie möglich unterzubringen, und das ging nur mit mehr Text.“
Simmonds holt eine Reihe von Kopien aus ihrer Tasche hervor, um zu zeigen, wie die Comics in der Zeitung aussahen. Jeweils etwa eine halbe Seite des späteren Buchs „Gemma Bovery“ passte auf die untere Hälfte einer Zeitungsseite.
Seit ihrem Studium, das sie teilweise an der Sorbonne absolvierte, fuhr sie immer wieder nach Frankreich. Auch zum berühmten Comicfestival in Angoulême. „Als ich ‚Gemma Bovery‘ veröffentlichte, kritisierten meine französischen Kollegen, dass das doch kein Comic sei, da sei zu viel Text drin. Seitdem sage ich immer: Das ist kein Comic, sondern ein illustrierter Roman – damit war es okay.“
„Tamara Drewe“ war ihre zweite Graphic Novel, die ebenfalls zuerst im Guardian veröffentlicht wurde, eine Satire auf den Literaturbetrieb, diesmal angelehnt an Thomas Hardys Roman „Far from the Madding Crowd“ („Am grünen Rand der Welt“, 1874). „Ich schätze Hardys Bücher sehr“, so Simmonds, „sie erzählen von gewöhnlichen Menschen und sind oft auch düster.“
Das gruselige Element hinter der heiteren Fassade
Auch in Simmonds Comics verbirgt sich hinter einer scheinbar sehr lockeren und heiteren Bilderfassade so manch gruseliges Element. Beide Graphic Novels wurden verfilmt, die Hauptfigur in beiden Fällen mit der britischen Schauspielerin Gemma Arterton besetzt. „Die Verfilmungen unterscheiden sich von den Comics, aber das ist okay so, es ist eine andere Kunstform“, sagt Simmonds.
Posy Simmonds: "Cassandra Darke", Reprodukt Verlag, Berlin 2019, 96 Seiten, farbig, 24 Euro
Im Zentrum ihrer Graphic Novel „Cassandra Darke“ steht wiederum eine Frau. Doch ist sie – im Gegensatz zu ihren früheren Heldinnen – weder jung noch schön, sondern alt und dick. „Wenn ich in London spazieren gehe, ist dort die Armut seit der Finanzkrise 2008 deutlich sichtbarer.“
Wie bei Charles Dickens
Der Kontrast zwischen Vierteln mit Einkaufstempeln und extrem teuer vermieteten Häusern und schäbigen Quartieren voller Bettler erinnerte mich an die viktorianische Zeit und Charles Dickens’ ‚A Christmas Carol‘. Cassandra Darke wird so zu meiner Variante der Dickens-Figur des Ebenezer Scrooge.“
Simmonds Cassandra ist eine wohlhabende Londoner Kunsthändlerin, die ihr Vermögen durch Betrügereien mehrt, aber eines Tages auffliegt. Sie nimmt ihre unbekümmerte, mittellose Stieftochter Nicky auf, die selbst mit albern-schlüpfrigen Projekten „Kunst“ machen will, wofür Cassandra nur Verachtung übrig hat. So weit die Satire. Doch eines Tages entdeckt Cassandra eine Waffe in Nickys Mülleimer.
Geschickt verwebt Posy Simmonds Elemente einer Krimihandlung in das Porträt dieser Eigenbrötlerin aus besseren Kreisen. Dabei wechselt die Autorin auch geschickt die Erzählperspektiven. „Cassandra Darke“ führt die Leser*innen so auch ein Stück weit an der Nase herum. Wann geschieht denn nun endlich der Mord? Gibt es überhaupt ein Todesopfer? Die Spannung hält bis zum Ende, man will wissen, wie’s weitergeht, ob sich die Titelheldin in ihrem Charakter noch wandelt.
Auf die Frage, wie bewusst sie die gängigen Regeln für das Thrillergenre unterwandere, sagt Posy Simmonds: „Ich kenne sie noch nicht einmal.“ Das sei so ähnlich wie damals, als sie mit dem Comiczeichnen anfing.
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