: Posthomosexuelles Happy End?
Müssen gleichgeschlechtlich Liebende für immer eine Identität als Unterdrückte entwickeln? Oder ist die sexuelle Orientierung bald kein besonderes Merkmal mehr? Während sich Lesben und Schwule in den USA als „queer“ reinszenieren, scheint sich die homosexuelle Identitätin Dänemark aufzulösen. Ein Essay von HENNING BECH
Seit Mitte der Achtzigerjahre ist in Dänemark von einem Verschwinden der Homosexuellen geredet worden. In den letzten Jahren ist daraus fast eine allgemeine Weisheit geworden. In Zeitungen und im Fernsehen, wie auch in den schwul-lesbischen Medien, wird darüber gesprochen, wie Lesben und Schwule sich „totgesiegt“ haben; es gibt nichts mehr, wofür zu kämpfen ist. Einige der älteren Schwulen und Lesben träumen sich in die Zeiten zurück, wo es noch eine echte, profilierte Identität gab – eine leidende und unterdrückte, gewiss, aber auch starke, kämpferische und vielleicht gar alternative.
Auch die Jüngeren verspüren die Tendenz zum Verschwinden der Homosexuellen. Die Jugendgruppe des Verbandes für Lesben und Schwule hat eine Untersuchung durchgeführt, in der die jungen Frauen und Männer gebeten wurden, die fünf größten Ängste aufzuschreiben, die sie vor ihrem Coming-out hatten: Freunde zu verlieren, Schwierigkeiten mit den Eltern, Probleme am Arbeitplatz. Es hat sich gezeigt, dass praktisch nichts von dem, was gefürchtet wurde, wirklich passierte. Einige der jungen Leute greifen auf Vorstellungen von der „Alternativität“ lesbischer und schwuler Lebensweisen zurück, haben aber Schwierigkeiten anzugeben, was genau daran „alternativ“ sei.
Was aber war es denn, homosexuell zu sein? Betrachten wir das Phänomen der homosexuellen Identitätskonstruktion, vor allem dessen strategisch ausgerichteten, politischen Aspekte. Vier Entwicklungsstufen folgten hierbei nacheinander.
Die erste von diesen Identitäten möchte ich die „klassische“ homosexuelle Identität nennen. Angenommen wird, die gleichgeschlechtliche Lust sei unumgänglicher Ausdruck einer tiefen inneren Natur, die durch Biologie oder Kindheit wie ein Schicksal in eine besondere Gruppe von Menschen hineingelegt sei. Man sieht sofort die politische Dimension dieser Art von Identitätskonstruktion. Wenn die Lust der Ausdruck eines inneren natürlichen Wesenskerns ist, kann man ihretwegen nicht getadelt werden. Die Homosexuellen sollten deshalb dieselbe Anerkennung und dieselben Rechte haben wie die Heterosexuellen. Die „klassische“ homosexuelle Identität ist eine deutsch-österreichische Erfindung aus der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie erwies sich als exportfähig und zählebig und hat sich in der ganzen nordwestlichen Welt breit gemacht.
Eine zweite Stufe der homosexuellen Identitätskonstruktion ist die der homophilen Identität. Man findet sie auf der internationalen westlichen Bühne vom Ende der 1940er-Jahre an. Menschen, die Partner ihres eigenen Geschlechts bevorzugen, seien keineswegs sexfixiert; deshalb sei die Bezeichnung „homophil“ viel angemessener als „homosexuell“. An sich seien sie genau so respektabel wie Heterophile. Die große Mehrheit der Homophilen lebe in stabilen Paarverhältnissen oder habe keinen höheren Wunsch, als in solchen zu leben. Was an Abweichungen von dieser Norm vorkommen möge – wie Promiskuität, serielle Monogamie oder Sex in Klappen, Parks und Saunas –, sei das Resultat gesetzlicher und sozialer Diskriminierung.
Wieder ist die politische Dimension dieser Identitätskonstruktion deutlich: Gerade weil den Homophilen die gesellschaftliche Anerkennung fehle, seien sie gezwungen, ihre Liebesbedürfnisse in solchen entfremdeten, fetischisierten und instrumentalisierten Formen wie denen des Klappensex’ auszuleben. Wenn sie aber die gleichen Rechte und die gleiche Anerkennung erhielten, würden sie damit aufhören.
Eine dritte Fassung der homosexuellen Identität findet man seit dem Ende der Sechzigerjahre. Es ist die, wie es auf amerikanisch heißt, lesbian and gay identity, auf deutsch die Identität als Lesbe oder Schwuler. Die Homosexuellen seien nicht wie die anderen, und schon gar nicht respektabel. Vielmehr seien sie dadurch gekennzeichnet, dass sie Leben und Lust nicht auf die gesellschaftlich geforderten Entfaltungsweisen – wie die der Geschlechterrollen und der Kernfamilie – beschränken. Differenz und Alternativität seien Merkmale lesbischer und schwuler Lebensstile und Kulturformen. Außerdem seien sie vielleicht auch besser: lustvoller, liebevoller, weniger unterdrückend. Somit inkarnieren sie, symbolisch oder tatsächlich, das Unterdrückte und die mögliche Alternative, die Hoffnung auf Befreiung und das Versprechen auf Glück sowie die Negation, den Widerstand oder den Aufruhr.
Die politische Perspektive dieser Identitätskonstruktion ist die Umkehrung der früheren Konstruktionen: Die Homosexuellen sollten nicht dieselben Rechte haben, denn damit würden sie integriert, diszipliniert und verbürgerlicht, und sie hörten auf, eine revolutionäre Kraft zu sein. Vielmehr müsse die ganze Gesellschaft geändert werden, damit alle so „befreit“ und alternativ leben könnten, wie es die Homosexuellen schon vorführen. Diese Variante der homosexuellen Identitätskonstruktion hatte großen Erfolg überall in der westlichen Welt, vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren.
Die neueste Variante der proklamierten homosexuellen Identität ist die der queer identity, wie wir sie vor allem seit 1990 in den USA vorfinden. Betont wird dabei oft die Breite und Inklusivität von queer: Frauen und Männer; Weiße und Schwarze; Lederlesben und Paillettentunten; Frauen, die gern Schwule ficken, und Männer, die gern sowohl mit Männern als auch mit Frauen schlafen; vielleicht auch reine Heteros, die sich irgendwie nicht als Normalheteros fühlen. Die Grenzen des queer sind immer umstritten; unbestritten bleibt, dass es eine Grenze gibt: die zum straight. Die queer identity ist wesentlich oppositionell konstruiert und die am meisten politische und gar kriegerische in der Geschichte homosexueller Identitäten.
Das Phänomen der queer identity hat in den USA einen verhältnismäßig großen Einfluss erreicht. Im Gegensatz zu den anderen Varianten der homosexuellen Identitätskonstruktion hat sie sich aber nicht in der übrigen westlichen Welt durchgesetzt. Meiner Meinung nach hängt dies nicht mit einer Rückständigkeit und einem Nachholbedarf Europas zusammen. Die Konstruktion einer homosexuellen Identität als queer ist in Europa nicht möglich, insofern sich in den europäischen Gesellschaften eine Tendenz zum Verschwinden der modernen Homosexuellen durchgesetzt hat.
Eine solche Tendenz ist in Dänemark recht fortgeschritten. Sie kam bei der Einführung der eingetragenen Partnerschaft deutlich zum Vorschein. Die vorangegangene öffentliche Debatte ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Es wurde von den Anhängern der neuen Gesetzgebung kaum auf die drei oben genannten Identitätskonstruktionen und die damit verbundenen politischen Argumentationen hingewiesen. Auch die Argumente, die von den Apologeten der Entfaltungsmöglichkeiten gleichgeschlechtlicher Lust und Liebe benutzt wurden, konzentrierten sich vor allem auf das Prinzip der Gleichheit und Gleichwertigkeit – statt auf eine besondere Natur also, eine noch nicht gelebte Respektabilität, eine Alternative oder eine Differenz.
Den Hintergrund dieser Entwicklungen in den Argumentationen bildet eine umfassende Angleichung der Unterschiede zwischen homosexuellen und heterosexuellen Lebensweisen. Auch die Heterosexuellen wissen, dass Ehe und Kernfamilie keine ewigen und unumgänglichen Institutionen sind. Auch sie erfahren Promiskuität und serielle Monogamie, etablieren Netzwerke von Freunden statt von Verwandten. Auch sie genießen Analsex und noch anderes mehr. Auch sie erfahren Mannsein oder Frausein als Problem und Möglichkeit statt als Selbstverständlichkeit und Natur.
Jedes Merkmal, das man als spezifisch für die Homosexuellen hervorheben möchte, ist dabei, allgemein und gewöhnlich zu werden. Deshalb ist es nicht mehr so überzeugend, den essenziell andersartigen Personentypus der Homosexuellen, ihre Alternativität oder gar Respektabilität hervorzuheben. In diesem Sinne könnte man von einer Homogenisierung der Charakterzüge und Lebensweisen sprechen.
Eine große Hilfe bei dieser Entwicklung leistet die Existenz eines Wohlfahrtsstaates. Wenn den Leuten ein akzeptables Maß von geldlichen Mitteln und sozialer Sicherheit garantiert ist, werden sie nicht so viel Angst haben, außerhalb der Familie zu leben, mit Begegnungen unter Fremden, mit Geschlecht sowie mit Selbst und Sexualität zu experimentieren. Ein weiterer vorantreibender Umstand ist die Existenz einer kulturellen Ideologie, die die Anerkennung nicht familialer und nicht traditioneller Lebensweisen unterstützen kann. Die Ideologie des „Freisinns“ wirkt in Dänemark in diese Richtung. Aber natürlich gibt es auch in Dänemark Ressentiments gegen Lesben und Schwule. Deshalb ist auch stets eine breite Reihe der alten Elemente zur Identitätskonstruktion gewiss sinnvoll und nötig.
In den meisten anderen Ländern der Welt ist es ziemlich absurd, von einem Verschwinden der Homosexuellen zu sprechen, weil sie dort noch gar nicht existieren. Und auch dort, wo die Homosexuellen schon seit Jahrzehnten etabliert sind, ist es nicht immer sinnvoll, von einer Tendenz ihres Verschwindens zu sprechen.
Die Vereinigten Staaten etwa sind durch eine ungeheure Ungleichheit in der Verteilung von Reichtum und sozialer Sicherheit gekennzeichnet. Statt die Möglichkeiten der modernen Lebensbedingungen zu nutzen, tendieren die Leute dazu, sich auf die Familie oder die anderen so genannten „primären“ Gruppen zu verlassen, die sie in einer sonst vielleicht sehr gefährlichen Welt unterstützen können. Folglich wird in den USA der Familie große Bedeutung beigemessen, und zwar oft einem – vom dänischen Gesichtspunkt aus – recht archaischen Ideal vom Familienleben, mit scharf getrennten Geschlechterrollen und patriarchalischen Autoritätsstrukturen. Je mehr in einer Gesellschaft diese Ideologie der Kernfamilie betont wird, desto ungünstiger sind die Bedingungen für die Homosexuellen, weil ihr Leben als Homosexuelle sozusagen per Definition außerhalb der traditionellen Familie situiert ist und sie deswegen leicht Projektionsziele werden für die Furcht vor der Modernität. Die Identität als queer hängt diesem schroffen Gegensatz zusammen.
Was aber kommt, wenn die Homosexuellen verschwinden? Ein Beispiel: Sind die Pride-Paraden Ausdruck von Widerstand gegen die Macht, und von der Erkämpfung eines Freiraums, wie es schwule und lesbische KämpferInnen vielleicht behaupten möchten? Oder sind sie eher Beispiel der Verbürgerlichung von Lesben und Schwulen und ihrer Integration in die Konsumgesellschaft der herrschenden Mittelschichten? Oder handelt es sich um karnevalesken Spott, der mit List die Heteronormativität untergraben soll? Oder um das Vorführen von Alternativität? Vielleicht alles auf einmal.
Das Fehlen von Gegenprotesten, die frohe und lockere Stimmung unter Teilnehmern und Zuschauern, die alltägliche Selbstverständlichkeit, mit welcher die Behörden Verkehr und Straßenreinigung abwickeln – das alles könnte darauf deuten, dass wir hier gewissermaßen auch in die Epoche nach den Homosexuellen gelangt sind: Wo die Leute zusammenkommen, um einen Geschmack zu kultivieren, ohne Bedarf an weiteren Erklärungen und Rechtfertigungen, und wo sie die reine Ästhetik der Symbole genießen und sich ganz einfach der Nähe und Wärme des Zusammenseins erfreuen. In dieser Weise ist also die Kultivierung der sexuellen oder erotischen Präferenz eine Sache von Geschmack und Ästhetik geworden.
Dies schließt ethische Aspekte des Lebens nicht aus. Man könnte vielleicht sogar behaupten, dass die – ehemaligen – Homosexuellen besonders gute Voraussetzungen dafür haben. Gerade sie haben ja geschichtliche Erfahrungen mit dem Zusammenleben in „reinen Verhältnissen“ (wie es der britische Soziologe Anthony Giddens ausgedrückt hat), das heißt in Verhältnissen, die um ihrer selbst willen eingegangen werden (und nicht etwa aus Traditionsdruck oder finanziellen Gründen). Solche Verhältnisse sind nun für alle an der Tagesordnung.
Vielleicht sind wir an den Punkt gelangt, wo die fundamentalen Unterschiede zwischen den Charakterzügen und Lebensweisen von „Homosexuellen“ und „Heterosexuellen“ dabei sind zu verschwinden. Statt solcher Gegensätze finden wir jetzt Leute, die – unabhängig von ihrer sexuellen Präferenz – mit der Frage konfrontiert sind, wie man am besten leben kann in Bezug auf körperliche Lust, existentiellen Reichtum, moralische Verpflichtung und gesellschaftliche Verantwortlichkeit, und die unter der großen Menge von Möglichkeiten wählen müssen, die jetzt fast allen zugänglich ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen