Positive Bindungen für Kinder: Es muss keine Supermutti sein

Die Mutter-Kind-Bindung ist kein Versicherungsschein. Vielmehr ist bei der Prävention von psychischen Krankheiten die Gesellschaft gefragt.

Kinder brauchen positive Erfahrungen mit Erwachsenen. Bild: dpa

"Die Mutter müsse sieben Tage in der Woche und 365 Tage im Jahr (und die Nächte dazwischen) präsent sein, denn nur so könne ein Kind gesund aufwachsen, forderte John Bowlby, Erfinder der Bindungstheorie", so schreibt Lotte Kühn in ihrem Buch "Supermuttis". Auch wenn Frauen heute dem britischen Psychologen eine Humanisierung der Geburtserfahrung und das Rooming-in im Krankenhaus verdankten, so sei doch die Bindungstheorie zum Katechismus dogmatischer Mutterschaft geworden, kritisiert Kühn weiter.

Was politisch fraglich ist, weil etwa Mütter, die einen Beruf ausüben oder ihr Kind nicht stillen, heutzutage mithilfe dieser Theorie unter Druck gesetzt werden, wird zunehmend auch von Wissenschaftlern hinterfragt, vor allem aus dem Bereich der Resilienzforschung. Resilienzforscher decken seit einigen Jahren auf, was einen Menschen dazu befähigt, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen und negativen Stressfolgen umzugehen.

Laut Bowlbys Theorie müsste der Bindungsstil darüber entscheiden, wie es um das Urvertrauen eines Menschen bestellt ist. Eine Bindungserfahrung zu einem Menschen, meist der Mutter, macht ein Kind in den ersten Lebensmonaten bzw. bis zu einem Alter von drei Jahren. Je nachdem wie die Mutter auf die Bedürfnisse des Kindes wie Hunger oder Müdigkeit reagiert, bildet sich ein sicherer, unsicherer oder auch desorganisierter Bindungsstil heraus.

Die Ergebnisse der Resilienzforschung sehen jedoch anders aus: Die Psychologin Emmy Werner von der University of California in Davis beobachtete über vier Jahrzehnte lang knapp 700 Bewohner der Pazifikinsel Kauai. Sie entstammten sozial schwachen Familien, es fehlte also immer an Geld, die Eltern waren teilweise krank, die Ehen vielfach zerrüttet. Diejenigen Kinder, die besonders vielen Widrigkeiten ausgesetzt waren, litten häufig im Lauf ihrer Kindheit unter Lernproblemen, Verhaltensstörungen und psychischen Krankheiten oder wurden straffällig. Jedes dritte Kind war jedoch im späteren Leben erfolgreich, beruflich sowie in persönlichen Beziehungen.

Der wichtigste Grund für diese Unverletzbarkeit war jedoch nicht eine gelungene Mutter-Kind-Bindung, sondern erstaunlicherweise eine stabile Beziehung zu einem Erwachsenen außerhalb der Familie, etwa einer Kindergärtnerin oder einem Lehrer. Marianne Leuzinger-Bohleber, Leiterin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt, meint: "Trotz eines problematischen Bindungsstils zur ersten Bezugsperson können gute andere Bindungserfahrungen stark machen." Andererseits ist auch eine sichere Bindung kein Versicherungsschein gegen psychische Krankheiten. Die ersten Bindungserfahrungen bringen das Kind also auf einen Weg, doch von diesem gibt es viele Abzweigungen.

Die erstaunliche Konsequenz aus der Resilienzforschung ist demnach, dass auch, wenn Eltern vieles "falsch" machen, die Kinder immer noch durch eigene Charaktereigenschaften oder das soziale Netz glückliche Erwachsene werden können. Auch die Beobachtung, dass sich jüngere Kinder besser von Traumata erholen als ältere, spricht dagegen, dass die frühkindlichen Erfahrungen die wichtigsten sind. Und: Etwa jeder Zweite ist hierzulande unsicher oder desorganisiert gebunden, aber so viele psychisch Kranke gibt es Deutschland nicht. Umgekehrt findet man auch unter den Patienten in psychiatrischen Kliniken immerhin 8 Prozent Menschen, die über einen sicheren Bindungsstil verfügen.

Die Psychoanalytikerin Leuzinger-Bohleber sieht hier die Gesellschaft in der Verantwortung: "Psychische Probleme sind nicht nur ein individuelles Problem. Durch Präventionsprogramme kann man gefährdete Gruppen wie Migranten davor bewahren, in Parallelgesellschaften abzurutschen, indem man die Ausbildung von Resilienz bei ihnen fördert." In vielen Bereichen gibt es schon solche Programme: in Kindergärten, Schulen oder bei Sozialverbänden. Auch wenn wir in dieser Hinsicht vor allem hinter den USA weit zurückstehen.

Klaus Fröhlich-Gildhoff, Psychologe an der Evangelischen Hochschule in Freiburg, meint, dass Familien und Einrichtungen zu gleichen Teilen gefragt sind. Wichtig dabei ist etwa, dass man Kinder nicht in Watte packen darf, damit sie psychisch stabil werden. Kleine Aufgaben im Haushalt oder das Hüten von Geschwisterkindern stärken beispielsweise das Verantwortungsbewusstsein und das Selbstwertgefühl. In Kindergarten und Schule ist es wichtig, dass klare Regeln, ein wertschätzendes Klima und ein angemessener Leistungsstandard herrschen, um Resilienz zu fördern.

Auch persönliche Ressourcen schützen. Etwa ein positives Temperament, Intelligenz oder wenn jemand Erstgeborener ist. Das Temperament des Kindes spielt interessanterweise ebenso eine Rolle dabei, wie sich der Bindungsstil zwischen Mutter und Kind entwickeln kann. Stehaufmännchen zeichnen sich zudem schon in jungen Jahren durch gute Selbstwirksamkeit aus. Diese Kinder merken, dass sie etwas bewirken können, verfallen nicht in eine passive Opferhaltung oder in Resignation.

Genauso wenig wie ein sicherer Bindungsstil ist aber auch Resilienz kein Kontinuum. Die Kraft der Selbstheilung ist also keine lebenslange Eigenschaft, wie man zu den Anfängen der Resilienzforschung annahm. Jemand, der aus einer unglücklichen Kindheit gestärkt hervor gegangen ist, kann in einer anderen Situation straucheln. "Die Empirie betrachtet viele Menschen und gibt uns grobe Raster vor. Aber die Statistik hilft uns eben in konkreten Fällen nicht immer weiter. Man muss das individuelle Problem betrachten", sagt Leuzinger-Bohleber. Übrigens hat das auch John Bowlby getan. Dass sein Name nun für einen dogmatischen Glaubenskrieg herhalten muss, ist darum mehr als schade.

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