Portrait: Sema Moritz
■ Die in Berlin aufgewachsene Sängerin wechselte von Berlin nach Istanbul
Von ihrer neuen Wohnung aus kann Sema Moritz direkt auf den Bosporus schauen. Ein Tisch, ein Bett, mehr hat sie nicht mitgenommen. „Ich fühle mich so gut in Istanbul“, meint sie. „Seit acht Monaten hat mich niemand mehr gefragt, wie ich mich als Ausländer fühle.“ Hier in Istanbul will Sema – die nie Noten lesen gelernt hat – nun Arien von Bach einstudieren sowie alte, kitschige türkische Tangos aus den 40er Jahren.
Mit 30 Jahren begann die Bibliothekswissenschaftlerin im Berliner Ensemble des Komponisten Tahsin Incirci zu singen. Später leitete sie im linken „Türkenzentrum“ einen Volksmusik-Frauenchor und gründete schließlich ihre Jazz-Chanson-Band Taksim. Sie versucht sich an jüdischen Ghetto-Liedern, anatolischer Volksmusik, an Brecht und an Istanbuler Kunstmusik. Bald galt Sema in Berlin als türkische Sängerin zum Vorzeigen. „Es war frustrierend. Irgendwo ist Ausländerwoche, dann ruft das Fernsehen an: Frau Moritz, wir wollen ein Interview. Kein Mensch würde Ute Lemper zur Ausländerwoche einladen!“ Beim Berliner DeutschlandRadio erzählt der Moderator von seinem Türkeiurlaub und seiner türkischen Putzfrau.
Vor drei Jahren geht Sema mit einem Stipendium des Berliner Senats nach Istanbul und beginnt, in Bibliotheken alte türkische Kunstlieder zu sammeln. Zurück in Berlin, entwickelt sie mit Taksim in Arrangements mit Bandoneon, Schlagzeug und Sopransaxophon wunderschöne Verbindungen zwischen traditioneller osmanischer Kunstmusik und europäischem Jazz. Die CD „Erinnerungen an Istanbul“ erscheint als Teil eines prachtvollen, großformatigen Kunstbandes, mit alten Stichen und neuen Übermalungen durch den Berliner Maler Hanefi Yeter, in limitierter Auflage von 100 Stück, für einen Einzelpreis von 3.500 Mark.
Istanbul hat ihr gefallen, und nun lebt sie ganz dort. Vermißt ihre Freunde und kämpft mit den unendlichen Alltagsproblemen der Türkei. Die schönste Orgel der Stadt – für ihr Bach-Programm – findet sie in der kleinen deutschen evangelischen Kirche. Und dann gibt ihr ein Konzert wieder Gelegenheit, nach Deutschland zu kommen. Gemeinsam mit dem jüdischen Klarinettisten Giora Feidman, dem russischen Männerchor Arte Chorale und dem in Berlin lebenden syrischen Ud-Spieler Farhan Sabbag steht sie in Erfurt auf der Bühne. „Islamische, christliche und jüdische Lieder“ melden stolz die Plakate. „Zum Gedenken der Toleranz.“ Martin Greve
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen