: Porträt eines widerspenstigen Schriftstellers
Der kurdische Autor Menaf Osman floh aus Syrien in die Türkei. Dort verschwand er Jahrzehnte im Gefängnis. Nun lebt er in München. Mit der taz sprach er über seine unglaubliche Geschichte

Von Chris Schinke
Er schrieb im Gefängnis auf Taschentüchern, schmuggelte Texte im Futter von Jacken hinaus und übersetzte den französischen Schriftsteller Alexandre Dumas ins Kurdische. Über 30 Jahre lang war Schreiben und Übersetzen für Menaf Osman ein Mittel, um zu überleben. Heute, im Exil in Deutschland, ringt er um den Neuanfang.
Ein Stipendium des deutschen PEN-Zentrums ermöglicht dem kurdischen Schriftsteller Menaf Osman seit November 2024 einen Aufenthalt in Deutschland. Es ist der vorläufige Endpunkt einer jahrzehntelangen Odyssee: der Flucht aus Syrien, durch türkische Gefängnisse, Verhöre, Fluchten und Abschiebelager. Mehr als 30 Jahre verbrachte Osman, 1965 im syrischen Hasaka geboren, in türkischer Haft. Der Vorwurf: Terrorismus.
Osman selbst spricht von einer pauschalen Kriminalisierung der Kurden in der Türkei, die auch ihn getroffen habe. Noch heute, nach verbüßter Haftstrafe und erzwungener Abschiebung von der Türkei nach Malaysia am 10. August 2024, betont der Autor seine generelle Unschuld. Sein Fall dürfte exemplarisch dafür sein, wie politisches Engagement für kurdische Belange in den 1990er und 2000er Jahren in der Türkei unter Generalverdacht standen und bis heute stehen.
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch dokumentieren für die Türkei unter der Herrschaft des Autokraten Recep Tayyip Erdoğan eine anhaltende und systematische Unterdrückung nationaler Minderheiten wie der Kurden. Weit verbreitet seien in den kurdischen Gebieten willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Folter und unfaire Prozesse.
Bereits während der Zeit seines Geologiestudiums in Syriens Hauptstadt Damaskus geriet Osman in den Jahren von 1984 bis 1986 ins Visier der dortigen Behörden. Zweimal wurde er dort festgenommen. Einmal, so sagt er im Gespräch in München, weil er ein Exemplar des Gedichtbands eines kurdischen Autors bei sich trug – ein im Libanon erschienenes Buch, dessen Besitz in Syrien als staatsfeindlich gewertet wurde.
Die politische Verfolgung in Syrien trieb Osman Anfang der 1990er Jahre schließlich zur Flucht in die Türkei, wo Verwandte von ihm lebten. Doch auch dort fand er, wie sich bald herausstellen sollte, keine Sicherheit. Am 13. März 1993, eine Woche vor dem kurdischen Newroz-Fest, dem Frühjahrs- und Neujahrsfest, wurde er erstmals auch in der Türkei im Stadtzentrum von Batman festgenommen.
Offiziell lauteten die Anklagepunkte damals: Separatismus, staatsgefährdende Agitation und angebliche Mitgliedschaft in der kurdischen PKK. Damit stuften ihn die türkischen Behörden als „linken Terroristen“ ein.
Osman räumt ein, sich politisch für die Rechte der Kurden eingesetzt zu haben. An bewaffneten Aktionen habe er, so betonte er es auch vor Gericht, nie teilgenommen. Gewalt sei für ihn nicht der Weg zur Befreiung. Er setze vielmehr auf Bildung, Wissenschaft, Literatur und Kunst.
Dennoch hat ein Gericht in der türkisch-kurdischen Metropole Diyarbakir Osman im Jahr 2002 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Osman selbst bezeichnet das damalige Verfahren als Farce. Allein die Tatsache, Kurde zu sein, habe gereicht, um ihn als Terrorist abzustempeln.
Ähnlich verfährt Erdoğans Justiz mit prominenten kurdischen Politikern bis heute. Gewählte Bürgermeister lässt er einsperren. Neuerdings kriminalisiert er auch die gesamte sozialdemokratische Opposition. Die türkischen Gefängnisse sind gefüllt mit Abgeordneten und Amtsträgern der CHP.
Osman wurde in zahlreichen Gefängnissen festgehalten und misshandelt – darunter in Batman, dem besonders berüchtigten in Diyarbakır, in Gaziantep, Adıyaman, Kocaeli, Balıkesir und Manisa.
Die ersten Wochen nach seiner Verhaftung beschreibt er als von brutaler Folter geprägt: Elektroschocks, Misshandlungen, nackt ausziehen. Auch in den Folgejahren, bis ins Jahr 2000, kam es, so legt Osman es im Gespräch dar, kam es immer wieder zu Folter, insbesondere vor neuerlichen Gerichtsterminen.
Teilweise war er mit bis zu 150 weiteren Menschen in völlig überfüllten Zellen zusammengepfercht. Die türkischen Gefängnispraktiken verbindet der Schriftsteller mit den dunkelsten Kapiteln der Menschheitsgeschichte.
Neben der körperlichen Gewalt litt er auch unter der systematischen Unterdrückung seiner kurdischen Identität und Kultur. Kurdisch zu schreiben, galt als Propaganda und war verboten. Allein deswegen erhielt er Disziplinarstrafen und zeitweise Besuchsverbote. Sein erstes im Gefängnis auf Kurdisch entstandenes Buch – sein Debütroman „Girê Şêra“ – brachte ihm eine weitere Gefängnisstrafe ein.
Trotz aller Repression schrieb Osman jedoch unermüdlich weiter: Gedichte, Romane, Essays, und arbeitete an Übersetzungen. Insgesamt entstanden während seiner Haftzeit 29 eigene Werke, dazu mehr als 30 Übersetzungen, darunter Alexandre Dumas’ „Graf von Monte Christo“ ins Kurdische. Schreiben und Übersetzen sei sein Überlebensanker gewesen. Ohne diese hätte er die Zeit nicht überstanden, so Osman.
Bis zur Jahrtausendwende war es fast unmöglich, Manuskripte aus dem Gefängnis herauszuschmuggeln. Viele Texte schrieb Osman mehrfach neu, da die Manuskripte beschlagnahmt wurden. Manche gelangten auf winzigen Zetteln oder auf Stoffresten von Taschentüchern in die Freiheit – versteckt im Jackenfutter von Mitgefangenen, die entlassen wurden. Türkische Texte wurden monatelang von den Zensurbehörden geprüft; oft erhielt er keine Antwort.
Osman teilte sein Schicksal in Haft mit vielen anderen Intellektuellen. Schriftsteller, Journalisten, sogar oppositionelle Imame saßen mit ein. Er musste erleben, wie Mitgefangene unter Folter starben. In besonderer Erinnerung geblieben ist ihm auch die Inhaftierung des italienischen Journalisten Dino Furosillo, der bei einer Newroz-Veranstaltung 1992 festgenommen und nach Diyarbakır verbracht wurde. Auf Druck der italienischen Regierung musste die Türkei Dino Furosillo 1993 wieder freilassen. Für Osman war der Austausch mit anderen politischen Gefangenen neben der Beschäftigung mit Literatur entscheidend, um zu überleben.
Von den vielen Büchern Osmans sind bislang nur wenige ins Deutsche übersetzt. In der Kurzgeschichte „Mistos – zerflossene Träume“ erzählt er von zwei Gefährten auf der Flucht aus dem Irak. Hoffnung und Ernüchterung, Traum und Trauma liegen in der Erzählung eng beieinander. Eine Passage über seinen Protagonisten lautet: „Voller Melancholie besah er sich die Straßen der Stadt seiner Kindheit. Er war sehr bewegt, da er all dies wohl niemals wiedersehen würde. In dieser Kleinstadt war er geboren worden, hier hatte er das Licht der Welt erblickt, hier kamen ihm die ersten Träume. Und nun würde er sich von dieser Wiege für immer verabschieden.“
Es sind Sätze wie diese, die deutlich machen, wie sehr Osmans Literatur zwischen Verlust und Hoffnung, zwischen poetischer Erinnerung und politischer Realität oszilliert. Aber neben seiner schriftstellerischen Arbeit zeichnet Osman auch Zeit seines Lebens. In seiner jetzigen Münchner Wohnung sieht man Aquarellarbeiten an den Wänden. In satten Farben erzählen sie künstlerisch von seinen Hoffnungen und Träumen. Im türkischen Gefängnis war zeichnen mit Farben verboten. Damit sollte auch verhindert werden, dass die kurdischen Nationalfarben in Umlauf gerieten.
Nach 32 Jahren Haft wurde Osman 2023 ins Abschiebe- und Rückführungszentrum Edirne überführt und dort interniert. Die Behörden stellten ihn vor die Wahl, entweder ins syrische Idlib oder nach Tall Abyad ins syrische Gouvernement ar-Raqqa abgeschoben zu werden – beides Gebiete unter islamistischer Kontrolle.
Osman verweigerte. Schließlich wurde er nach Malaysia abgeschoben, offiziell als Tourist, ohne gültige Aufenthaltserlaubnis. Dort lebte er monatelang in ständiger Angst, von dortigen Behörden entdeckt und in die Türkei zurückgeschickt zu werden.
Ende 2024 gelangte Osman mit Hilfe des deutschen PEN-Zentrums aus Darmstadt ins Programm Writers in Exile. Heute lebt er in der bayrischen Landeshauptstadt. Hier besucht er Sprachkurse und versucht, in der Freiheit anzukommen.
Osman arbeitet aktuell an einem weiteren Roman und daran, alte Manuskripte zu sammeln und aufzuarbeiten. Er hofft darauf, dass Übersetzungen einiger seiner Bücher im Deutschen erscheinen werden.
Das Reisen empfindet Osman als größte Freude seiner nun nach Jahrzehnten wiedergewonnenen Freiheit. Viele deutsche Städte, Österreich und die Niederlande hat er schon besucht. Nach mehr als 30 Jahren in Gefängniszellen hofft er nun, so viel wie möglich von der Welt zu sehen.
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