Porträt Recep Tayyip Erdoğan: Er kam aus einfachen Verhältnissen
Der heutige türkische Präsident wollte ganz nach oben. Dafür hat der Junge aus einem Arme-Leute-Stadtteil Istanbuls alles getan. Ist er nun am Ziel?
Seinen Gegnern gilt der 62-Jährige als Kriegstreiber, von seinen Unterstützern hingegen wird er wie ein Messias verehrt. Erdoğan, so schrieb kürzlich das US-Magazin Foreign Policy, sei die „anatolische Version des russischen Präsidenten“ Wladimir Putin. Als Erdoğan 2003 das Amt des Ministerpräsidenten antrat, tat er das mit dem Versprechen eines liberalen, modernen Islam.
Inzwischen ist er zu einem Autokraten geworden, vor dem ein großer Teil der Bevölkerung zittert. Zugleich ist er so beliebt wie nie zuvor. Millionen Türken jubeln ihm auf den Straßen zu, weil er den Militärputsch erstickt hat. Sie rufen „Allahu akbar – Gott ist groß“, sie schwenken türkische Flaggen und sind euphorisiert, weil Erdoğan laut über die Wiedereinführung der Todesstrafe nachdenkt.
2014 wurde er mit klarem Vorsprung zum Präsidenten gewählt, bei den Parlamentswahlen im November vergangenen Jahres bekam die von ihm mitgegründete Regierungspartei AKP sagenhafte 49,5 Prozent – ein Vertrauensbeweis, den Erdoğan dafür nutzt, dem Amt des Staatsoberhauptes immer mehr Befugnisse zu verschaffen: Die Türkei soll zum Präsidialsystem umgebaut werden. Jetzt erst recht. Und nicht nur im eigenen Land, auch international kommt kaum jemand an ihm vorbei: Als Schleusenwärter des Flüchtlingsstroms steuert er, wie viele Hilfesuchende nach Europa gelangen, und diktiert der EU seine Bedingungen. Diese Karriere wäre nicht möglich ohne den Ehrgeiz und die Machtverbissenheit, die nur ein Außenseiter mitbringen kann.
Er hat ein Ziel: Er will nach oben
Betrachtet man die Biografie des Staatschefs, wird vor allem deutlich: Schon als Kind muss er erfahren, was es bedeutet, als Außenseiter gegen den Strom schwimmen zu müssen, um seine religiösen Ideale in einem laizistischen System nicht zu verraten. Er ist ehrgeizig, will sich in einer Reihe mit der Elite sehen, die auf ihn als Gläubigen und aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Mann herab schaut. Trotz Politik- und Parteiverboten gibt er nie auf – im Gegenteil: Er erfindet sich immer wieder neu, bis er ganz oben angekommen ist. Freundschaften halten bei ihm nur so lange, wie sie ihm nützen.
Seinen Weggefährten über Jahre und Vorgänger im Präsidentenamt Abdullah Gül etwa hat er entsorgt, als das politische Kalkül es erforderte. Erdoğan interessiert die Meinung aus dem Ausland wenig, maßgeblich sind mehrheitsfähige Positionen bei seinen Stammwählern. Und wenn er Freunde schnell vergisst, dann gilt das nicht für seine Feinde: Er ist nachtragend und zornig auf alle, die es wagen, ihn zu hinterfragen, und rechnet irgendwann ab.
Çiğdem Akyol, geboren 1978 in Herne, ist Journalistin in Istanbul. Von 2006 bis 2014 war sie Redakteurin der taz. Kürzlich erschien ihr neuestes Buch: „Erdoğan. Die Biographie“, Verlag Herder, 24,99 Euro.
Wer sich auf die Suche nach dem Menschen hinter dem Staatsoberhaupt macht, muss in Kasımpaşa, einem für Kleinkriminalität berüchtigten Istanbuler Stadtteil, beginnen. Als Sohn eines mittellosen Seemannes musste der 1954 geborene Erdoğan Lebensmittel auf der Straße verkaufen, um sich Schulutensilien leisten zu können. Die Familie Erdoğan gehörte zu den „schwarzen Türken“: jener Unterschicht, die über Jahrzehnte von den „weißen Türken“, den Abkömmlingen der Eliten um Staatsgründer Kemal Atatürk, unterdrückt wurde. „Schwarze“ durften höchstens die Häuser der „Weißen“ putzen, für mehr waren sie nicht vorgesehen.
Liebe zu Fußball und zur Religion
Erdoğan besuchte ein religiöses Gymnasium, eine sogenannte Imam-Hatip-Schule. Es heißt, dass er sich im Unterricht einmal geweigert habe, eine Zeitungsseite als Gebetsteppich zu verwenden – weil es unislamisch sei, auf einem Stück Papier zu beten. Andererseits begeisterte sich Erdoğan so sehr für das von seinem Vater als unislamisch abgelehnte Fußballspiel, dass er seine Sportkleidung zu Hause im Kohlekasten versteckte und heimlich kicken ging. Sein Talent hätte sogar für eine Profikarriere gereicht. Aber er schlug sie seiner Familie zuliebe aus und entschied sich für ein Wirtschaftsstudium.
Da Erdoğan, der Junge aus Kasımpaşa, selbst gestalten will, schließt er sich mit 15 Jahren der neuen islamistischen Nationalen Ordnungspartei, der MSP, an, die bei der Entstehung der islamischen Millî-Görüş-Bewegung eine Vorreiterrolle spielt. Erdoğans politischer Ziehvater wird MSP-Gründer Necmettin Erbakan, ein derber muslimischer Fundamentalist und Antisemit. Als die Partei von den Kemalisten verboten wird, wechselt Erdoğan zur „Wohlfahrtspartei“, für die er 1994 erfolgreich als Bürgermeister von Istanbul kandidiert. Er muss nicht nur eine Millionenmetropole verwalten, sondern auch eine der liberalsten Städte der islamischen Welt.
„Wie wird es nun weitergehen?“, fragt damals ein Kommentator des türkischen Dienstes der BBC. Erdoğan erarbeitet sich rasch Renommee. Er ist pragmatisch und löst in kurzer Zeit viele Probleme der Stadt. 600.000 Bäume werden gepflanzt, die Müllabfuhr wird neu organisiert und funktioniert danach, und er erringt Erfolge im Kampf gegen die Korruption. Doch Erdoğan kann auch nicht von seinen Millî-Görüş-Instinkten lassen. Immer wieder sorgt er mit seiner konservativen Glaubensauslegung in der laizistischen Republik für Unmut. Auf Plakatwänden lässt er die Abbildung leicht bekleideter Frauen verbieten, in städtischen Betrieben den Ausschank von Alkohol.
Kampagnen gegen Erdoğan
Die säkularen Kemalisten arbeiten an Erdoğans Sturz: Um ihn als Islamisten zu brandmarken, gelangt ein Video in Umlauf, in dem Erdoğan 1992 den afghanischen Taliban zur „Gründung einer islamischen Republik“ gratuliert. Ein Bild aus dem Jahre 1993 wird herumgereicht, das ihn in Kabul zu Füßen von Gulbuddin Hekmatyār zeigt – jenem afghanischen Premierminister, der später Osama bin Laden zur Flucht verholfen haben soll und zum Krieg gegen die USA aufrief.
Schließlich liefert ein Gedicht den Vorwand für seine Entmachtung. 1997, damals noch Bürgermeister Istanbuls, zitiert Erdoğan den pantürkischen Dichter Ziya Gökalp: „Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Das Staatssicherheitsgericht verurteilt ihn zu zehn Monaten Gefängnis wegen „religiöser Volksverhetzung“.
Sie werden als mögliche Nachfolger für Sigmar Gabriel gehandelt. Ob EU-Präsident Martin Schulz und Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz die SPD aus der Krise bringen könnten, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 23./24. Juli. Außerdem: Ein Dossier zur Türkei. Wie erleben die Menschen in Istanbul die Woche nach dem Putsch und wie tickt Präsident Erdoğan? Und: Franz Herzog von Bayern könnte heute König sein, wäre da nicht 1918 dazwischengekommen. Ein Gespräch mit einem verhinderten Monarchen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Erdoğan habe gegen die säkulare Staatsordnung, also die Trennung von Staat und Religion, verstoßen. Die Richter sehen in ihm den Anführer einer radikalen islamischen Bewegung. Er beklagt sich: „Wenn ich kein Gedicht lesen würde, sondern ein Nummernschild, würden sie wieder einen Grund finden, mich in den Knast zu sperren“. Vier Monate der Strafe sitzt er von März bis Juli 1999 ab und verliert das Amt des Bürgermeisters.
Der muslimische Realo
Hinter Gittern begreift Erdoğan, dass er nicht mit religiösen Inhalten gegen die „weißen Türken“ ankommen kann, sondern nur, indem er realpolitische Fakten schafft. Als muslimischer Realo baut er 2001 die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, seine AKP, auf – laut eigener Definition nach dem Vorbild der europäischen Christdemokraten. Mit einer Charmeoffensive vor allem bei den „schwarzen Türken“ gewinnt die AKP 2002 kurz nach der schwersten Wirtschaftskrise der Republik die Mehrheit. Durch eine Gesetzesänderung und eine Nachwahl erobert Erdoğan 2003 das Amt des Premierministers und bestimmt seitdem die Geschicke des Landes.
Damals steht Erdoğan für einen rationalen Blick auf die Politik. Er wirbt für einen EU-Beitritt, setzt demokratische Reformen um, ist neugierig und eloquent. Zwar flirtet er immer wieder mit reaktionären Positionen, ist aber gewillt, Lösungen zu finden, die dem Land guttun. Ganz konkret verdankt die Türkei Erdoğan unter anderem eine modernisierte Infrastruktur, ein reformiertes Sozialsystem und eine deutlich verbesserte Krankenversorgung.
Zudem schaffte er es, dem Land ein ganzes Jahrzehnt lang ungewohnte politische und ökonomische Stabilität zu bescheren. Die Türkei verzeichnet zeitweise ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent jährlich. Er wagt einen Neuanfang in der Kurdenpolitik und demilitarisiert das Land.
Der selbstherrliche Autokrat
Doch das „Anything goes“, in den ersten Amtsjahren Ausdruck unbegrenzter Möglichkeiten des Fortschritts, ist mittlerweile zur autoritären Dominanz erstarrt: Noch immer muss alles gehen – aber jetzt nur nach Erdoğans Willen. Seine politische Agenda ist er selbst. Wenn man den frühen und den aktuellen Erdoğan vergleicht, wirkt der heutige wie ein gnadenloser Egoshooter. Mit jedem Wahlsieg wird er selbstherrlicher und autokratischer.
Die AKP ist zur Machtbastion eines hyperzentralistischen Systems geworden, der Staat bis tief in seine Kapillaren mit Parteigängern durchsetzt. Erdoğan hat den Rechtsstaat ausgehöhlt, regierungskritische Institutionen für seine eigenen Interessen zurechtgeformt, Medien manipuliert, die Gesetzgebung korrumpiert. Mit politisch motivierten Prozessen werden Kritiker wie nicht genehme Journalisten und Oppositionspolitiker mundtot gemacht, immer öfter demonstriert der Präsident seine Verachtung gegenüber dem, was für ihn nur intellektuelles Gehabe ist.
Der Weltöffentlichkeit wird die Radikalisierung Erdoğans erst 2013 so richtig klar: Demonstranten protestieren gegen die von dem seinerzeitigen Ministerpräsidenten beförderte Bebauung des Gezi-Parks, Erdoğan lässt sie brutal niederschlagen. Der Reformprozess in der Türkei kommt zum Erliegen, stattdessen beginnt der Aufbau eines repressiven Systems. Seinen Gegnern droht er damit, sie zu „zerdrücken“. Seinen Kritikern donnert er entgegen: „Kenne deine Grenzen.“ Regierungsgegner beschimpft er wahlweise als „israelisches Sperma“, „Blutegel“ oder „degeneriertes, unmoralisches Gesindel“.
Knast für ein harmloses Facebook-Posting
Derzeit sitzen rund 30 Journalisten im Gefängnis. Schon ein regierungskritisches Facebook-Posting kann für eine Verhaftung ausreichen. Auf der Rangliste der Pressefreiheit liegt das Land auf Platz 151 von 180 Staaten. Im Südosten des Landes herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände, jederzeit ist mit Anschlägen von Dschihadisten der Terrormiliz „Islamischer Staat“ oder kurdischen Terrororganisationen zu rechnen. Allein zwischen Juli 2015 und März 2016 sterben bei sechs Attentaten rund 220 Menschen. Auf dem Global Peace Index, der die friedlichsten Länder der Welt auflistet, rangiert die Türkei auf Platz 135 von 162 Ländern.
Seine Schreckensherrschaft wirkt: Als die Türkei 2014 ihren Präsidenten zum ersten Mal direkt wählt, gewinnt der volkstümliche Charismatiker mit den Instinkten eines Straßenkämpfers. Wer annimmt, dass ihn das gelassener macht, irrt: Oppositionelle brandmarkt er als vom Ausland gesteuerte Umstürzler. Regierungskritische Bücher werden verboten; die Sicherheitskräfte sind effizient, wenn es darum geht, Demonstrationen in Tränengas zu ersticken – aber unfähig, Terroranschläge zu verhindern.
Immer weniger Türken wagen es, von ihrer Angst zu sprechen, denn schon allein dies gilt als Verrat. Wer Widerstand leistet, wird wahlweise von Steuerprüfern in die Mangel genommen, unter Terrorismusverdacht gerückt oder wegen „Beleidigung des Präsidenten“ belangt: über 2.000 Verfahren nach diesem Paragrafen sind anhängig. Bei einem Schuldspruch drohen bis zu vier Jahre Haft. Wer freigesprochen wird, bleibt trotzdem nicht unbehelligt: Im Internet begehen AKP-Trolle Rufmord an Regierungskritikern und drohen mit Vergewaltigung und Schlimmerem.
Nach dem gescheiterten Militärputsch findet nun ein Politputsch statt. Der Ausnahmezustand ermöglicht es dem Präsidenten, per Dekret zu regieren. Massive Einschränkungen der Presse- und der Bewegungsfreiheit werden legitimiert. Nur wenige Stunden nach der vereitelten Revolution freute Erdoğan sich: „Dieser Aufstand, diese Bewegung ist wie ein Geschenk Gottes.“ Dann lieferte er seine Begründung: „Dieser Putsch gibt uns die Gelegenheit, die Streitkräfte zu säubern.“ Die blutige Niederschlagung lobte er als eine „Heldentat der Demokratie“ – kurz danach beginnt die Säuberungswelle.
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