Pophistoriker über Jugend: "Teenager werden nie obsolet"

Ist der Teenager ein historisches Subjekt des 20. Jahrhunderts oder bloß Erfindung der Kulturindustrie? Der britische Pophistoriker Jon Savage hat eine Geschichte der Jugend geschrieben.

"Ihre Rituale wird es immer geben", meint der Teenieforscher Jon Savage. Bild: dpa

taz: Herr Savage, was hat Sie auf die Idee gebracht, ein Buch über die Geschichte der Teenager zu schreiben?

Jon Savage: "Adolescence", das 1904 veröffentlichte Werk des amerikanischen Psychologen G. Stanley Hall. Es war eine Zäsur: Im 19. Jahrhundert gab es auch schon Jugendliche, aber Stanley Hall präzisierte in seiner Schrift die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, also etwa das Lebensalter zwischen 13 und 25 Jahren. Er nannte es Adoleszenz und führte damit als Erster eine separate Altersklasse ein. Zusammen mit den Kinderbüchern "Peter Pan" und "Wizard of Oz" ergibt das die drei Schlüsseltexte über die Jugend zur Jahrhundertwende.

Welche Subtexte stecken in "Peter Pan" und "Wizard of Oz"?

"Peter Pan" ist eine Parabel auf die ewige Jugend. Die Idee von ewiger Jugend ist immer mit ihrem schrecklichen Scheitern verbunden. "Peter Pan" ist weniger Märchen als vielmehr Gruselgeschichte voller Todessehnsucht. Zudem ist sie auch ein Kulturgut aus den letzten Tagen des britischen Empire und mutet seltsam nostalgisch an. "The Wizard of Oz" des amerikanischen Autors L. Frank Baum handelt dagegen von der Verwandlung. Er erzählt eine Geschichte, die fast deckungsgleich mit dem Gründungsmythos der Rockband ist: Bist du alleine und isoliert, such dir zwei, drei Geistesverwandte.

Im 19. Jahrhundert gab es aber noch keine Rockbands.

Nein, aber schon vorher, bei Goethes "Werther", taucht eine Faszination auf, jung zu sterben. Goethe diskutiert ausführlich die Idee der jugendlichen Empfindsamkeit. "Werther" liest sich wie ein Songtext der Smiths. Genauso gut hätte ich die Chartisten mit in mein Buch nehmen können. All die Bewegungen im Nachhall der Französischen Revolution wurden ja durch eine Erschütterung jugendlichen Bewusstseins ausgelöst. Eine bürgerliche Massenkultur, die sich von der Feudalgesellschaft und der Epoche der Monarchien abgrenzt, setzt bereits um das Jahr 1870 ein. Mein Buch beginnt 1875, denn ich fand bei der Recherche Tagebücher von Jugendlichen aus jener Zeit, etwa das der Französin Marie Bashkirtseff oder das des Amerikaners Jesse Pomeroy. Bashkirtseff verkörpert den guten Teenager, Pomeroy den bösen. Das ist eine Aufteilung, die bis heute funktioniert. Teenager als Traum oder Alptraum. Entweder sie werden als Trendsetter dargestellt oder als messerschwingende Verrückte, die ohne Motiv Menschen umbringen.

Gewalt spielt in der Identitätsfindung von Jugendlichen im 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle.

Gewalt, ob staatlich sanktioniert, oder von einer Gang, wird immer eine Facette der Jugendkultur bleiben. Sie war auch Auslöser für Stanley Halls Buch. Im frühen 20. Jahrhundert begann das, was er religiöse Umwandlung nannte und die Tatsache bezeichnet, dass Jugendliche obsessiv einem religiösen Glauben nachhängen oder einer politischen Ideologie. Man kann das heute an Selbstmordattentätern sehen. Vergleichbare Terroristen gab es auch in den 1870ern in Russland, die Attentate auf zaristische Machthaber verübten. Auf der anderen Seite gibt es Figuren wie den preußischen General Colmar von der Goltz, der den Satz geprägt hat, die wahre Stärke eines Landes liege in seiner Jugend. In dieser Sicht eignen sich junge Männer am besten als Kanonenfutter, weil sie keinen Familienanschluss haben.

Wie sind die ersten Jugendbewegungen entstanden?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Gegenreaktion auf Industrialisierung, Massenproduktion und Verstädterung. Gruppen junger Menschen durchquerten Deutschland zu Fuß. Sie nannten sich "Die Wandervögel". Im schweizerischen Ascona gründeten sie sogar eine Kommune, als Gegenreaktion auf den zunehmenden Materialismus. Solche Gruppen gab es auch in England, sie hießen Neo-Pagans und gerierten sich wie Hippies, mit langen Gewändern und Sandalen.

Das 20. Jahrhundert ist aber geprägt von technologischer Aufrüstung, die in den zwei Weltkriegen zum Ausdruck kam und Millionen auch junger Opfer forderte.

Krieg ist immer Gradmesser für sozialen Wandel. Am Ende des Ersten Weltkrieges taucht zum ersten Mal der Mythos einer Generation auf, die dem Untergang geweiht ist. Es tut sich ein Generationskonflikt auf: diejenigen, die gekämpft hatten, gegen diejenigen, die zu Hause geblieben waren. Das politisiert selbst das englische Nachtleben in den 20er-Jahren. In den USA entsteht die Prohibition. Während autoritäre Erwachsene für Mäßigung stehen und der Jugend Vorschriften machen wollen, findet diese, die Erwachsenen gehen zu weit. Und so kommt nach dem Ersten Weltkrieg ein reales Bewusstsein für Jugend auf. Man sprach in den USA von der flammenden Jugend, in England von den "bright young things". Jugendkultur wollte nun selbstbestimmt sein. Die "bright young things" waren sehr besorgt um ihr Aussehen. Sie verstanden sehr wohl, dass sie anders sein mussten als ihre Eltern.

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte das Jazz-Age ein.

Die amerikanischen Truppen brachten Jazz mit nach Europa. Die Europäer liebten Jazz. Sie tanzten den "Cakewalk" und den "Charleston". So kommerziell sie auch ist, Musik hat immer liberalisierende Gedanken eingebaut, ersichtlich etwa an den schwarzen Wurzeln der Popmusik. Der Jazz der 20er-Jahre geht einher mit der Black Renaissance in Harlem und dem Erwachen eines afroamerikanischen Selbstbewusstseins. Schwarze wurden durch ihre Musik überhaupt erst sichtbar. Bei der Niederschrift von "Teenage" wurde mir klar, wie wichtig Swing für die Emanzipation von Jugendlichen war. Er war laut und drückte sich neben der Musik auch in einem bestimmten Lebensstil aus, in der Mode der Zeit, im Jugendslang, sogar in eigenen Zeitschriften.

Sie schreiben, der Kapitalismus sei die dritte einflussreiche Strömung gewesen, neben Faschismus und Kommunismus. Was unterscheidet ihn von totalitären Weltanschauungen?

Mit dem Verfall der christlichen Wertekultur im 20. Jahrhundert traten Ersatzreligionen an ihre Stelle. Damals waren Faschismus und Kommunismus sehr verführerisch. An den Kapitalismus glauben Menschen aber nie so stark. Es ist kein Zufall, dass in den 20er- und 30er-Jahren zwei literarische Dystopien Berühmtheit erlangten, "Wir" von Evgenij Zamjatin und "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley. Während "Wir" von einem unterdrückerischen Szenario ausgeht, bei dem ein "oberster Lenker" die Menschen unterwirft, beschreibt "Schöne neue Welt" das Modell einer konditionierten Wohlstandsgesellschaft, in der das Vergnügen staatlich gefördert wird.

Warum wurde die Jugend zentral für die Nazi-Ideologie?

Die Nazis waren geschickt im Umgang mit ihr. Zunächst schlugen sie einen Keil zwischen die junge, nach dem Ersten Weltkrieg geborene Generation und deren Eltern. Dann betrauten sie die Jugend mit Führungsaufgaben innerhalb ihres paramilitärischen Apparats. So wurden Jugendliche in dem Glauben belassen, sie hätten Macht und Einfluss. In meinem Buch zeige ich beide Seiten: die Hitlerjugend, wie sie den gesellschaftlichen Mainstream im Faschismus bestimmt, und den Widerstand von Jugendlichen, die den Nazi-Mainstream ablehnten.

Was ist an diesem Widerstand charakteristisch?

Gruppen wie die Edelweißpiraten haben eigentlich nur das gemacht, was Jugendliche generell machen. Sie begehren gegen Autoritäten auf. Nur, die Antifaschisten haben dafür ihr Leben riskiert.

Wer hat den Begriff "Teenager" erfunden?

Wäre ich romantisch, würde ich sagen, die Jugend selbst. Tatsächlich kamen mehrere Faktoren zusammen. Marketing-Kampagnen im Big Business, aber auch Initiativen der US-Regierung 1943/44. Dass sich der Begriff Teenager durchsetzen konnte, liegt nicht zuletzt am Grad der jugendlichen Autonomie. Konsum war eine Antwort auf Jugendgewalt, die während des Zweiten Weltkriegs in den USA zum ernsthaften Problem wurde. Dabei schwang stets die Furcht mit, dass Jugendliche zu Nazianhängern werden könnten. Deshalb ist die konsumierende Jugend als Antwort auf den Faschismus so interessant. Konsum war eben nicht nur hierarchisch eingeführt, das hätte selbst 1944 nicht mehr funktioniert.

Inwiefern sind Teenager an der Demokratisierung und dem Sieg gegen die Nazis beteiligt?

Bei der Propagierung amerikanischer Kulturerzeugnisse sind sie elementarer Bestandteil. Der Begriff "Teenager" findet erstmals im Herbst 1944 Erwähnung. Und einer der Multiplikatoren war das Mädchenmagazin 17. Da ist viel von Mode die Rede, wie junge Frauen auf Jungs wirken. Genauso wurde darin die Idee der Demokratie diskutiert. Amerika führte Krieg gegen den Faschismus. In 17 versicherte man sich dessen immer wieder. Konsumkultur hat sehr viel mit demokratischen Idealen zu tun, nach ihnen leben wir noch immer.

Über dem Jahr 1945, mit dem Sie Ihre Geschichte beschließen, liegen Tod und Verderben.

Der Krieg endet mit dem Abwurf der Atombombe, die das Bewusstsein der Menschen von Grund auf erschüttert hat. Die Bombe war ein Massenvernichtungsmittel, das alles Leben dem Erdboden gleichgemacht hat. Alle Menschen wurden dadurch in Sekundenbruchteilen zu Existenzialisten, die nur für den Augenblick leben, was wiederum eine sehr Teenager-affine Erfahrung ist. Durch die Insignien der amerikanischen Kultur und durch die Atombombe wurden wir alle zu Teenagern. Am Ende des Zweiten Weltkriegs stoßen amerikanische Werte in die Lücken.

Denken Sie nun anders über Teenager?

Mit 55 bin ich ganz bestimmt kein Teenager mehr. Was mit dem Thema Teenager zusammenhängt, habe ich als 20-Jähriger selbst durchlebt. Ich habe unzählige Konzerte gesehen und Drogen genommen, ich hatte Sex. Zurzeit lebe ich gesund, praktiziere Yoga und gehe früh zu Bett. Und ich tue das sehr gern.

Ewige Jugend ist heute allgegenwärtig. Ist der Teenager damit obsolet geworden?

Teenager werden nie obsolet, denn ihre Rituale wird es immer geben. Nur, heutzutage wird der Begriff Teenager sozial anders konstruiert, das hat mit seiner Geschichte zu tun und mit seiner Darstellung in den Medien. Das Konzept Teenager ist ein Motor für die Kulturindustrie, und weil dem so ist, ist das problematisch geworden. Viele unserer Sorgen drehen sich um die Ökologie, um die Nachhaltigkeit von Produkten und um den Klimawandel. All das hat direkt mit unserem Lebensstil zu tun. Die zentrale Frage wird sein, wie in Zukunft Konzepte der Jugend und der Gesellschaft organisiert werden können, wenn man sie nicht mehr über den Konsum organisieren kann. Denn irgendwann im 21. Jahrhundert, vielleicht schon sehr bald, wird es den Menschen nicht mehr möglich sein, so wie im jetzigen Maße zu konsumieren.

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