Polnisch-preußische Spurensuche: Das Feindbild bröckelt
Vor 300 Jahren wurde der Preußenkönig Friedrich II. geboren. Die preußische Geschichte ist Teil unserer Identität, sagt der Pole Grzegorz Podruczny. Er gräbt sie wieder aus.
KUNOWICE taz | Objekt 219 ist bald gefunden. Eine Musketenkugel, mehr als 250 Jahre alt. Grzegorz Podrucznys Hand, mit Handschuhen aus derbem Wollstrick gegen die Kälte geschützt, hält triumphierend das runde Ding hoch, von der Größe einer Murmel etwa.
Mit einer Zahnbürste säubert Podruczny die Kugel von Dreck. Dann fischt er in seiner Tasche nach einem Tütchen, in das er die Kugel fallen lässt. Auf einen Zettel notiert er die Objektnummer. In sein GPS-Gerät gibt er die Positionsdaten seines Funds ein.
"Wer etwas Neues über die Schlacht von Kunersdorf erfahren will, muss nicht eine oder hundert, sondern tausend solcher Kugeln finden", sagt Grzegorz Podruczny. Der polnische Wissenschaftler hat diese Ausdauer.
Fünf Stunden wird er heute Feldforschung betreiben, fast alleiniger Herr über das Schlachtfeld von Kunersdorf, ein Acker am Ortseingang des heutigen Kunowice, einem 530-Seelen-Vorort der polnischen Grenzstadt Slubice. Abseits stehen neue Einfamilienhäuser, kleine architektonische Scheusale.
Der König: Friedrich II. wurde am 24. Januar 1712 im Stadtschloss in Berlin geboren.
Die Schlacht von Kunersdorf: Unmittelbar nachdem Friedrich II. im Jahr 1740 den Thron bestieg, erhob er gegenüber Österreich Ansprüche auf Schlesien, die er jedoch erst nach drei Kriegen geltend machen konnte. Die Schlacht bei Kunersdorf fand während des letzten - des Siebenjährigen - Krieges am 12. August 1759 zwischen der russisch-österreichischen und der preußischen Armee statt und endete mit der Niederlage Friedrichs. Russen und Österreicher nutzten jedoch diesen Vorteil nicht und so blieb die Schlacht ohne Folgen und bescherte Preußen letztlich einen glücklichen Ausgang des Krieges. Preußen war zur europäischen Großmacht aufgestiegen. In Potsdam ist Friedrich II. am 17. August 1786 gestorben.
Der Geburtstag: Am Dienstag, den 24. Januar, findet ein Festakt anlässlich des 300. Geburtstages im Konzerthaus Berlin statt. Mehr unter: www.friedrich300.eu
Mit Spaten und Detektor auf dem Schlachtfeld von Kunersdorf
Andrzej ist eine Art stummer Diener des Schlachtenforschers. Mit Militärparka, Mütze und derben Schuhen ausgerüstet, weiß Andrzej als ehemaliger Grenzpolizist, wie man mit einem Metalldetektor umgeht. Er ortet Fundstellen, markiert sie mit einem Fähnchen.
Dann setzt Andrzej den Spaten an, Podruczny holt Erde aus dem Boden, die wiederum mit dem Detektor geprüft wird. Häufchen für Häufchen wird Erde aussortiert, bis am Ende Objekt 220 auftaucht, das Stück einer Granathaubitze.
"Alte Quellen kennt man doch zur Genüge. Wir wollen etwas Neues machen: Schlachtfeldarchäologie. In den USA gibt es das seit dreißig Jahren", sagt Grzegorz Podruczny. Der 35-Jährige ist Kunsthistoriker, spezialisiert auf Festungsbauten aus friederizianischer Zeit. "Davon gibt es hier ziemlich viele", sagt er.
70 Prozent des historischen Preußen liegt heute auf polnischem Gebiet, vierzig Prozent der preußischen Bevölkerung sprach Polnisch. Friedrich II., der vorzugsweise Französisch und von der "polnischen Wirtschaft" abfällig sprach, war am Verschwinden des polnischen Staates beteiligt. Keine Identifikationsfigur für einen Polen. Im Siebenjährigen Krieg 1756 bis 1763 legte sich Friedrich mit Österreich, Frankreich und Russland an, in Kunersdorf erlitt er 1759 seine größte Niederlage.
Die Teilungen Polens sind heute noch spürbar
Die Schlacht, bei der Russen und Österreicher die Preußen vernichtend geschlagen haben, ist kein Thema für den Polen Podruczny. Für ihn ist Friedrich kein Feind, sondern ein Aufklärer. "Die preußische Geschichte ist jetzt polnische Geschichte, sie ist Teil unserer Identität. Ich sehe das positiv."
Die drei Teilungen Polens - in preußisches, österreichisches und russisches Staatsgebiet - seien noch spürbar. Das preußische Polen fühlt westlich, denkt europäisch, daran lässt Podruczny kein Zweifel. Die Polen im Westen wählen mehrheitlich die liberale Bürgerplattform, nicht die konservative Partei PIS.
Mit Detektor und Spaten rücken Grzegorz Podruczny und sein Helfer dem Acker zu Leibe. Jeder Fund eine Zigarette für Andrzej, während der Historiker seine Objekte im GPS vermerkt. Objekt um Objekt verschwindet in Podrucznys Tasche. Eine polnische Münze von 1923, Kartätschenkugeln, ein Teil einer Uniform, eine Kugel ist abgeflacht. "Das heißt, damit wurde jemand erschossen. Sie ist an etwas abgeprallt."
Einmal haben sie das Skelett eines russischen Grenadiers gefunden. Viel blieb nicht übrig von der Schlacht. Das Terrain, wo 60.000 Russen und 19.000 Österreicher Stellung bezogen hatten, liegt zwischen Wald und Sümpfen und muss noch genauer geografisch bestimmt werden.
Die Fundstücke werden nach Warschau geschickt, gemessen, beschrieben und inventarisiert. 1.000 Objekte haben sie in den letzten drei Jahren gefunden, berichtet Podruczny, auf zehn Jahre sei das Projekt angelegt. Er arbeitet für die Mickiewicz-Universität in Posen. "Eine Kugel ist Träger vieler Informationen. Sie erzählt mir etwas vom Stress des einfachen Soldaten, bisher gab es keine Historiografie von einfachen Menschen. Ein Pferd war mehr wert als ein Infanterist."
Die eigentliche Schlacht war schnell vorbei
Nach Fundort und Zustand der Kugel lässt sich rekonstruieren, ob an der Stelle gekämpft wurde, ein Soldat auf der Flucht war oder er zum Zeitvertreib Kugeln als Würfelspiel benutzt hat. Soldatsein bedeutete vor allem Kampieren, Exerzieren, Langeweile und Drill; die eigentliche Schlacht, in der 6.000 preußische Soldaten starben, war schnell vorüber. Podruczny ist sich sicher, dass es hier Massengräber geben muss. Wenn sie jemand finden kann, dann er.
"Ziehen Sie sich warm an, Podruczny macht keine halben Sachen", hatte Werner Benecke auf den Weg nach Kunowice mitgegeben. Der 300. Geburtstag von Friedrich II. werde in Polen keine große Aufmerksamkeit erregen, prognostiziert der Historiker von der Viadrina-Universität in Frankfurt, Slubices Partnerstadt jenseits der Oder.
Dafür sei Friedrich zu negativ besetzt und auch eng mit der ungeliebten DDR verbunden. Er erklärt sich die polnische Abneigung gegen Friedrich und Preußen mit der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten. Schließlich habe Friedrich propagiert, man müsse "Polen verspeisen wie eine Artischocke". Außerdem sei Friedrich "befremdet gewesen von der enormen politischen Selbständigkeit des polnischen Adels". In Preußen hatte der Adel dem Staat zu dienen.
Dass nun Interesse an Preußen aufkeimt, schreibt Benecke der jüngeren Generation zu, Leuten wie Podruczny. "Sie haben Interesse, eine neue Selbstverständlichkeit und einen gewissen Abstand zur Geschichte. Mit Preußen ist etwas Regionales gemeint, das Kulturerbe, nicht der Staat."
Benecke und Podruczny arbeiten am Collegium Polonicum in Slubice, einer Außenstelle der Posener Mickiewicz-Universität und der Viadrina in Frankfurt. Der Neubau streckt sich längs zur Oder, kein Wunder, dass der Historiker und Polonist Benecke lieber hier sein Büro bezogen hat. Der Ausblick auf den Fluss ist prächtig. Und das Collegium ist mehr als eine Außenstelle der beiden Unis, es ist auch Nachbarschaftszentrum. Henryk Raczkowski kommt oft hierher, er ist Leiter der deutsch-polnischen Seniorenakademie.
"Den Feind besser verstehen"
"Unser Ziel war es, die Deutschen besser kennen zu lernen. Und umgekehrt", sagt der 80-Jährige mit dicker Brille und Lew-Kopelew-Bart. In sozialistischen Zeiten gab es kaum Kontakt über den Fluss. Die Akademie hat einen kleinen Raum im Collegium Polonicum.
Raczkowski hat nach dem Krieg Deutsch gelernt, heimlich. "Um den Feind besser zu verstehen", erklärt er, der seine Familie durch die Deutschen verlor. Friedrich und Preußen sind für ihn kein großes Thema. "Er hat dennoch viel Gutes bewirkt, zum Beispiel das Oderbruch trockengelegt."
Auch die deutsch-polnische Seniorenakademie betreibt lokale Geschichtsforschung - aber der Fokus ist ein anderer als bei der jüngeren Generation, die sich nicht mehr an Faschismus und Kommunismus abarbeitet. Raczkowskis Thema ist der Kulturaustausch. Zwei ehemalige Lehrerinnen hat er zum Gespräch dazugeholt.
Erwartungsvoll sitzen die Damen da, die Kommunikation stockt. Sprachbarrieren. "Wir Slubicer sind keine alteingesessenen Bürger", erklärt Raczkowski ihr Interesse für Geschichte. Nach dem Krieg wurden vor allem Polen aus dem damaligen Osten Polens im Westteil des Landes angesiedelt, "gezielt Leute ohne Tradition", sagt Werner Benecke.
Gemeinsam mit Grzegorz Podruczny hat Benecke 2009 Veranstaltungen zu "250 Jahre Kunersdorf" organisiert. Teil davon war auch eine Nachstellung der Schlacht - und Teil dieses "Reenactments" war Grzegorz Podruczny, der Schlachtenforscher. Bei Deutschen stößt diese Passion auf Befremden. Die Stadt Frankfurt sagte ihre Beteiligung an dem Programm ab, einigen Abgeordneten war das Interesse für Militarismus schlicht suspekt.
"Das Militär ist in Polen viel angesehener als bei uns", sagt Werner Benecke. Die Schlachtnachsteller kommen von überall her, "das ist eine ganze Bewegung". Vor allem in Osteuropa. "Es gibt eine Sehnsucht nach Vergangenheit", erklärt Podruczny das Phänomen. "Ihr Deutschen seid pazifistisch, das ist gut so. Ich muss das nicht sein, ich darf preußischer Soldat spielen." Aber hat das nicht etwas vom rheinischen Karneval? "Das ist kein Karneval", sagt Podruczny ernst, "das ist lebendige Geschichte. Und mir hilft das bei der Forschung."
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