Polizeigewalt im Pariser Vorort: Knüppel statt Respekt

Théo Luhaka wurde nahe Paris von Polizisten schwer misshandelt. Gegen die Beamten wird ermittelt. Auf den Spuren von Rassismus und Polizeigewalt.

Vor zwanzig Jahren gab es in Aulray eine Art Nachbarschaftspolizei, die auf Verständigung setzte. Seit Nicolas Sarkozy demonstrieren die Regierungen Härte Foto: ap

AULNAY-SOUS-BOIS taz | In Reih' und Glied stehen die hellblau lackierten Bänke im Hospital Robert Ballanger in Aulnay-sous-Bois, kurz Aulnay. Die Dreiersitze sind so angeordnet, dass niemand gegenüber Platz nehmen kann. Eléonore Luhaka und ihr Bruder Christopher betrachten das Setting, dann verschieben sie eine der Eisenbänke. Sie wollen Blickkontakt zum Gegenüber, suchen bewusst das Gespräch.

Ihre Familie, acht Geschwister, ist seit Wochen in den Schlagzeilen, vor allem der jüngste Bruder Théo, der hier im Krankenhaus liegt. Eléonore ist 37 Jahre alt und engagiert sich in der Gemeinde sozial. Christopher, 24 Jahre alt, spielt beim belgischen Zweitligisten KVV Coxyde. Die beiden haben gerade für Théo den Heimtransport arrangiert. Zwei Wochen lag der 22-Jährige hier.

Offizielle Videoaufnahmen aus Aulnay, 18 Kilometer nördlich von Paris, zeigen, wie Théo Luhaka Anfang Februar von vier Polizisten der Spezialeinheit BST bei einer Personenkontrolle mit Stöcken attackiert und schwer verletzt wird. Im Krankenhaus diagnostizieren die Ärzte einen zehn Zentimeter langen Riss im After – einer der Polizisten soll einen Schlagstock in Théos Anus eingeführt haben. Die Beamten sind suspendiert, eine externe Untersuchung ist eingeleitet, es wird zum Prozess kommen. Ein Beamter wird jetzt der Vergewaltigung verdächtigt, die anderen der vorsätzlichen Waffengewalt.

Immer wieder gibt es seit dem Vorfall heftige, teils aggressive Proteste in mehreren Pariser Vorstädten, Dutzende Menschen wurden verhaftet, auch in der Hauptstadt. Am Samstag fand in Paris auf der symbolträchtigen Place de la République eine weitgehend friedliche Demo mit mindestens 3.000 Teilnehmern statt, darunter dem linken Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon und dem Ex-Fußballnationalspieler Lilian Thuram.

Eine allseits respektierte Familie

Massive Folgen des Vorfalls, der sich am 2. Februar, am Tage, direkt vor dem Kulturzentrum „Le Nouveau cap“ im Viertel „La Rose des Vents“ von Aulnay ereignet hat. Théo, athletisch, knapp zwei Meter groß, mit kongolesischen Wurzeln, hat keine Vorstrafen, nichts. Die Familie Luhaka, wird der Kulturzentrumsleiter später sagen, „gilt hier als Idealfamilie, als offen und engagiert“. Théo leitet Fußballgruppen mit Kindern, ist allseits respektiert. „Die Tatsache, dass er als Schwarzer verbal Partei ergriff für einen Bekannten, der sich nicht ausweisen wollte, genügte der Polizei, ihn zu misshandeln“, sagt seine Schwester Eléonore.

Verspricht Aufklärung: Präsident Hollande bei Théo Luhaka im Krankenhaus Foto: ap

Personenkontrollen sind in französischen Problembezirken, den sogenannten „quartiers sensibles“, extrem häufig. Dort ist die Kriminalitätsrate meist doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Und sie betreffen überproportional Nichtweiße und Arabischstämmige. Immer wieder kommt es zu Gewalt – im vergangenen Juli starb in einer Polizeistation im Pariser Umland der 24-jährige Adama Traoré nach einer Kon­trolle und unter bis heute vor Gericht nicht abschließend geklärten Umständen.

Lunis, Gemeindearbeiter in Aulnay

„Auf Kosten sinnvoller sozialer Projekte wird extrem viel in die Polizei gesteckt“

„Manchmal checken sie dich bis zu viermal täglich, fragen nach dem Ausweis, außer du siehst aus wie ein ‚français de souche‘, ein ordentlicher weißer Franzose“, erzählt Christopher. „Das Ganze ist für die Katz und trifft die Falschen im Viertel. Die brutalen Dealer, die hier Millionen verdienen, die wirklich Kriminellen – an die traut sich die Polizei nur selten ran.“ Zum Abschied im Krankenhaus fordert Eléonore „Respekt auf beiden Seiten. Die Polizei hat einen schwierigen Job. Aber sie darf nicht Front machen gegen Aufklärung.“

Präsident Hollande will aufklären

Anders als bei den Unruhen in den Pariser Vorstädten 2005, die durch den Tod zweier Jugendlicher ausgelöst wurden, zeigt die sozialistische Regierung Aufklärungswillen. Präsident Hollande besuchte Théo Luhaka im Krankenhaus und verlangte „schonungslose Aufklärung“. Innenminister Bruno Le Roux spricht allerdings lieber von „einem tragischen Unfall“. Und Marine Le Pen vom Front National nennt in ihrem Statement zum Fall Théo Luhaka noch nicht einmal seinen Namen. Sie fordert, Demos gegen die Polizei zu verbieten.

Bei der Busfahrt vom Hospital in das Viertel „La Rose des Vents“, wo auch Familie Luhaka wohnt, dominieren die Gegensätze. Schmucke Ein- und Mehrfamilienhäuser wechseln sich ab mit leerstehenden, ramponierten Sozialwohnungen aus den 70er und 80er Jahren. Irgendwo dazwischen bieten junge schwarze Männer auf einem provisorischen Markt ein paar Cola-Dosen und Zigaretten an, unter sich blankes Erdreich.

Angekommen am „Le Galion“, einem tristen Betonriegel, der nur noch wenige Bewohner hat und abgerissen werden soll, prangt ein riesiges Plakat von Moussa Sissoko, einem französischen Fußballnationalspieler, der hier aufwuchs. Gleich gegenüber steht eine nagelneue Appartmentanlage: „Jetzt Eigentum erwerben – 4 Zimmer ab 238.000 €.“ Gesichert mit Eingangscode, Zaun und Gegensprechanlage. In Paris ist so etwas je nach Lage nicht mehr unter 1,2 Millionen Euro zu haben.

„Fickt euch Bullen“

Die Verdrängung von Mittellosen noch weiter hinaus in die Peripherie beginnt auch hier im Norden von Aulnay mit seinen 83.000 Einwohnern, wo bis vor Kurzem, anders als im südlichen Gemeindeteil, keiner auch nur einen Immobilien-Cent investiert hätte. Um die Ecke vom „Le Galion“ fordert ein Graffito: „Nique la police“ – frei übersetzt: „Fickt euch Bullen“. Davor zwei Wannen der Polizei. Seltsamerweise keine Beamten drinnen zu sehen. „Die haben sich versteckt“, ruft ein Steppke grinsend und reckt den Daumen.

„In den neunziger Jahren gab es eine Art Nachbarschaftspolizei in den Vorstädten“, sagt Lunis, der als Techniker für die Gemeinde arbeitet. Aus Sorge vor Problemen mit seinem Chef will der 40-Jährige nicht seinen richtigen Namen nennen. Das Gespräch findet vor dem „Nouveau Cap“ statt. Knallrot und blau angestrichen steht das Kulturzentrum wie ein Leuchtturm, gegenüber ein eingezäunter Bolzplatz, außen herum funktionale, ordentliche Wohnungen. Lunis ist ein zierlicher Mann, er hat eine zugewandte Art. Viele grüßen ihn, plauschen kurz.

Die „Police de Proximité“, erklärt Lunis, war nicht hochgerüstet, „meist auf Verständigung aus. Und als ich Kind war, gab es sogar noch günstige Ferienlager, die die Polizei organisierte.“ Ende der 80er Jahre habe ihn als „algerischen Franzosen“ aber auch niemand als „Franzose zweiter Klasse“ betrachtet. Damals, als die Jugendarbeitslosigkeit nicht wie heute im Viertel bei rund 40 Prozent lag, damals, als das um die Ecke liegende und 2013 geschlossene Peugeot-Werk stetigen Bedarf an Arbeitskräften hatte. Damals lebten in „La Rose des Vents“, als Arbeitersiedlung für Peugeot entstanden, Franzosen jeder Couleur. „Aber es war kein Thema, woher du kamst.“ Heute haben die meisten Bewohner Wurzeln in Algerien, in anderen Staaten Nordafrikas, aber auch in Zentral- und Westafrika und der Türkei.

Seit Sarkozy setzen die Regierungen auf Schlagstöcke

Unter Nicolas Sarkozy als Innenminister und scharfem Hund einer konservativen Regierung wurde die Nachbarschaftspolizei ab 2003 abgeschafft und schließlich Ende der nuller Jahre ausgetauscht durch die auf Abwehr und totale Autorität ausstrahlende BST, die „Brigade spécialisée de terrain“. Überall gehe die Aufrüstung der Polizei weiter, sagt Lunis. So auch unter dem konservativen Bürgermeister von Aulnay, Bruno Beschizza, dem ehemaligen Hardliner einer Polizeigewerkschaft. „Auf Kosten sinnvoller sozialer Projekte wird extrem viel in die Police municipale, die Gemeindepolizei, gesteckt.“

Bis vor Kurzem organisierte der studierte Bautechniker an Schulen Konflikttraining. „Der Fall von Théo, das ist der Baum, der den Wald versteckt“, meint Lunis. „Es muss sich grundlegend was ändern im Umgang mit den Vorstädten.“ Nur weil einige dort extrem kriminell aufträten, dürften nicht ganze Viertel stigmatisiert werden. Der Unmut jetzt, „der ist gut. Aber wir müssen langfristig denken und die autoritären, oft rassistisch handelnden Ordnungskräfte verändern.“ Polizeigewalt sei kein Einzelfall sondern ein strukturelles Problem.

Youcef Kahali, Musiker und seit Kurzem Leiter des Kulturzentrums, greift sich wenige Minuten später in seinem spartanischen Büro an den Kopf. „Mein Ziel ist es, auch Leute von außerhalb, aus Paris, für unser Programm zu interessieren. Aber was ist das Einzige, was dort von der furchtbaren Geschichte mit Théo im Kopf bleibt? Dass das hier ein No-go-Viertel sein soll.“

Duzen als verbale Gewalt

Kahali, 40 Jahre alt, der noch oft von der Polizei kontrolliert wird, „die mich unhöflicherweise immer duzt“, sieht die Demonstration in Paris zwiespältig: „Jede Solidarisierung ist gut, aber ich befürchte, dass die nicht langfristig ist. Die Pariser gehen halt an der Place de la République kurz mal demonstrieren und beruhigen damit ihr demokratisches Gewissen. Aber zu uns raus kommen sie deshalb noch lange nicht.“

Auf dem Rückweg nach Paris mit der leicht rumpeligen S-Bahn sticht auf fast jeder der Zugstationen ein Plakat ins Auge: „Stolz darauf, der Justiz zu dienen“, sagt auf ihm ein vollbärtiger, weißer Mann. Der Staat wirbt für die Arbeit in Gefängnissen. Das Plakat wirkt wie eine Ohrfeige für die Banlieue.

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