Polizei in Hamburg: Wenn die KI eine Umarmung als Schlägerei deutet
Die Polizei Hamburg will Videoüberwachung mit Künstlicher Intelligenz aufrüsten. Die Technik ist umstritten – nicht nur aus Datenschutzgründen.

Um solche Fragen zu klären, will die Hamburger Polizei sich bald von Künstlicher Intelligenz helfen lassen. Ab dem 1. September soll ihre Videoüberwachung auf zwei Plätzen in der Nähe des Hauptbahnhofs mit dem vom Fraunhofer-Institut entwickelten System „IVBeo“ aufgerüstet werden, das potenziell gefährliche Situationen erkennen soll.
Es wäre der erste längerfristige Einsatz von KI-Überwachungssoftware durch die Polizei im öffentlichen Raum in Hamburg. Anfang des Jahres wurde dafür extra das Landespolizeigesetz geändert. Die Technik ist allerdings umstritten, und wann sie eingesetzt werden kann, noch offen.
Vorher müssten wichtige datenschutzrechtliche Fragen geklärt werden, findet Hamburgs Datenschutzbeauftragter Thomas Fuchs. Dabei geht es vor allem darum, dass die Polizei Videoaufnahmen aus Hamburg nicht wie vorgeschrieben löschen, sondern ans Fraunhofer-Institut in Baden-Württemberg schicken will, um die KI zu trainieren.
KI rechnet Menschen in Strichmännchen um
„An wen gehen die Daten genau, wie stellt die Polizei sicher, dass nur Personen Zugang zu den Daten haben, die das dürfen, wie lange bleiben die Aufnahmen gespeichert, wann werden sie gelöscht?“ Auf Antworten der Polizei und der Innenbehörde zu diesen Fragen warte er seit geraumer Zeit vergeblich, sagte Fuchs der taz.
Grundsätzlich sei er mit der KI aber d’accord. Die Software wandelt Videoaufnahmen von Menschen in Strichmännchen um. Sie erfasst laut dem Fraunhofer-Institut keine individuellen Merkmale wie die Haarfarbe oder das Gesicht. Sie ist darauf programmiert, auffällige Bewegungen zu erkennen wie Schläge, Tritte oder Stürze. Dann springt der Bildschirm auf der Polizeiwache an und informiert die Beamt*innen, die davor sitzen, durch ein Signal.
Das findet Thomas Fuchs aus datenschutzrechtlicher Perspektive gar nicht so schlecht, weil die Polizei die Hamburger*innen dadurch weniger lange Zeit beobachte. Den zentral gelegenen Hansaplatz und angrenzende Straßen überwacht die Polizei seit 2019 mit 16 Kameras zu bestimmten Zeiten, den Hachmannplatz am Hauptbahnhof seit Sommer 2024 mit 27 Kameras. Beide Maßnahmen begründet sie mit der „hohen Kriminalitätsbelastung“.
Die Überwachung mit KI aufzurüsten, wird in Hamburg schon lange diskutiert. Am Hansaplatz wurde die Software von Juli bis Oktober 2023 schon einmal getestet, allerdings ohne mit den Aufnahmen die KI zu trainieren – erfolgreich, fand die Hamburger Polizei, die das Projekt selbst evaluiert hat. So sah es auch Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD): „Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass wir dank der Software sehr frühzeitig auf Gefahrensituationen aufmerksam werden und unmittelbar intervenieren können.“
System verwechselt Umarmung mit Schlägerei
Tatsächlich kam es in der Testphase nur zu einem einzigen Strafverfahren – und zu mehreren Fehlalarmen. Die KI schlug mehrmals an, obwohl es keine Gefahrensituation gab.
Matthias Marx, Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC) hält die KI für nicht funktionsfähig. „Das System kann nicht leisten, was es verspricht“, sagt er. „Es kann Umarmungen nicht sauber von einer Schlägerei unterscheiden.“ Marx kritisiert, dass die Polizei Hamburg das System vom Fraunhofer-Institut gekauft hat, obwohl sich schon während einer ersten Testphase in Mannheim Probleme abgezeichnet hätten.
Viel wichtiger als die Frage, ob das System gut oder schlecht funktioniert, sei aber die Frage, wozu es überhaupt eingesetzt werden soll. „Grundsätzlich ist Überwachung nicht das geeignete Mittel, um soziale Probleme zu lösen“, sagt Marx.
Soziale Probleme rund um den Hamburger Hauptbahnhof sollen seit Jahren vor allem verdrängt werden. Mit der „Allianz sicherer Hauptbahnhof“ setzt der Senat auf Videoüberwachung, Waffenverbotszonen und Alkoholverbote, die Kontrollen und Platzverweise ermöglichen. Am Hansaplatz, zwei Gehminuten vom Bahnhof entfernt, wird diese Verdrängungspolitik besonders sichtbar.
Hamburg setzt auf Verdrängung
Der Platz mit dem großen Brunnen in der Mitte wird gleichermaßen von gutbürgerlichen Anwohner*innen, zahlenden Cafégästen und obdachlosen und offen Drogen konsumierenden Menschen genutzt.
Letztere vertreiben Kontrollen und Überwachung zunehmend in Nebenstraßen oder auf einen nahegelegenen Spielplatz – ohne ihre Probleme zu lösen, wie das Bündnis Hansaplatz kritisiert, das sich in Reaktion auf die KI-Testphase 2023 gegründet hat.
Künstliche Intelligenz, die Gefahrensituationen anhand von „ungewöhnlichem“ Verhalten erkennen soll, werde die Situation verschärfen, glaubt Marx vom CCC. Sie führe dazu, dass Menschen ihr Verhalten anpassten, Kriminalität sich verlagere und der öffentliche Raum nicht mehr von allen gleichermaßen genutzt werden könne.
Wie die Technik von den Nutzer*innen des Hansaplatzes wahrgenommen wird, untersucht derzeit die Uni Hamburg. Ob das System wirklich am 1. September eingesetzt wird, werde sich in den nächsten Wochen zeigen, sagte die Polizei auf Anfrage.
Hamburg lehnt Einführung von Palantir ab
Fest steht: Hamburg liegt im Trend. Bundesweit setzen immer mehr Länder auf KI, um Beamt*innen bei der Videoüberwachung zu unterstützen – Berlin setzt sie schon länger ein, Hessen und Rheinland-Pfalz testen und Niedersachsen würde auch gern, sagte Innenministerin Behrends (SPD) vor Kurzem.
Den Einsatz der umstrittenen Analysesoftware des US-Unternehmens Palantir vom rechten Techmilliardär Peter Thiel hat Hamburg kürzlich abgelehnt. Anders sieht es mit der KI-gestützten Videoüberwachung aus. SPD und Grüne haben sich schon dafür ausgesprochen, die Ausweitung auf mehr Kameras an mehr Orten in der Stadt zu prüfen.
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