Politologe zu Protesten in Algerien: „Das Volk will den Sturz des Regimes“
Die Menschen in Algerien werden sich nicht mit Zugeständnissen zufriedengeben – sie sehnen sich nach einem radikalen Wandel, sagt Rachid Ouaissa.
taz: Herr Ouaissa, kein fünftes Mandat für Präsident Bouteflika, aber eine auf unbestimmte Zeit verlängerte Amtszeit des Präsidenten. Kommt das Regime damit durch?
Rachid Ouaissa: Das glaube ich nicht. Das Volk wollte verhindern, dass Bouteflika an der Wahl teilnimmt, aber der hat die gesamte Wahl gestoppt. Das ist ein Versuch zu manövrieren, damit das Regime überlebt. Bouteflika hat versprochen, eine demokratische Republik zu etablieren – aber mit der Verlängerung seiner Amtszeit bricht er gleichzeitig das Gesetz.
Was wollen die Menschen, die seit Wochen auf die Straße gehen: Geht es um die Person Bouteflika oder um einen wirklich tiefgreifenden Wandel?
Die Algerier wollen das ganze Regime. Wir beobachten einen graduellen Anstieg der Forderungen: Anfangs ging es darum, ein fünftes Mandat Bouteflikas zu verhindern; inzwischen geht es um das gesamte Regime. Nicht nur die paar Figuren in der Regierung sollen ausgewechselt werden. Das algerische Volk fordert einen radikalen Wandel, den Sturz des Regimes. Für diesen Freitag wird zu weiteren Demonstrationen aufgerufen. Das wird weitergehen.
Das Regime in Algier gilt als Blackbox. Was lernen wir aus der Ankündigung von Montagabend über die Machtstrukturen in Algerien?
In dem Brief vom Montagabend verkündet Bouteflika, dass er eigentlich gar kein fünftes Mandat wollte, weil er ja krank sei. Irgendjemand muss ihn also gezwungen haben: nämlich sein Clan. Ich vermute, dass dieser Brief von einem gegnerischen Clan innerhalb des Regimes geschrieben wurde, um den Bouteflika-Clan zurückzudrängen und weitermachen zu können ohne diesen schon verbrannten Clan des Präsidenten. Das ist ein Coup, eine Inszenierung. Bouteflika und sein Clan sind verbrannt. Der Präsident soll zum Rücktritt gezwungen werden, damit das Regime nicht verloren geht. Damit der Nächste weitermachen kann.
Aber spricht nicht die Regierungsumbildung gegen einen regimeinternen Coup gegen den Staatschef? Das sind doch Bouteflikas Leute.
geboren 1971 in Algerien, ist Politikwissenschaftler und leitet seit 2009 das Fachgebiet „Politik des Nahen und Mittleren Ostens“ an der Universität Marburg.
Überhaupt nicht. Der neue Regierungschef, Noureddine Bedoui, und sein Vize Ramtane Lamamra sind weniger politische Menschen als vielmehr Leute, die ihren Job machen, Techniker des Regimes. Sie gehören nicht zum Kern des Bouteflika-Clans. Das gilt auch für Lakhdar Brahimi, der die „nationale Konferenz des Konsenses“ organisieren soll. Nach außen verfügen sie über eine gewisse Legitimität – Brahimi ist als ehemaliger UN-Gesandter für Syrien weltweit bekannt – und nach innen sind sie nicht verbrannt.
Wenn es ein regimeinterner Coup war: Wer hat sich dann durchgesetzt?
Das ist der Teil der Blackbox, der noch nicht beleuchtet wurde. Ich gehe davon aus, dass die Geheimdienste, die Bouteflika in seinen Jahren an der Macht zurückgedrängt hat, versuchen, die Macht wieder an sich zu reißen. Möglicherweise auch Teile des Militärs, unabhängig davon, dass der Armeechef auf der Seite Bouteflikas steht.
Wie geht es jetzt weiter?
Das Volk will eine mit dem Regime verhandelte Transition, so wie in Polen Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre. Ein radikaler Bruch, wie es in der DDR der Fall war, könnte in Algerien chaotisch verlaufen. Aber das Regime will eine gelenkte Transition, einen Wandel, den es selbst diktiert. Das ist auch der Inhalt des Briefs von Montagabend: Wir sagen, wie es weitergeht. Genau das aber will das Volk nicht.
Hat das Regime nach seinem vermeintlichen Zugeständnis jetzt eine Rechtfertigung, Proteste anders als in den vergangenen Wochen niederzuschlagen?
Das ist eine Gefahr. Wenn der Plan der Regierung, auf diese Weise aus der Krise zu kommen, nicht akzeptiert wird, kann es sein, dass das Militär sich stärker einmischt.
Was raten Sie den Menschen auf der Straße?
Die Friedfertigkeit aufrechterhalten! Das schützt sie vor dem Regime. Die Gewaltfreiheit ist das Grandiose an den Protesten. Das Volk hat bewiesen, dass es reif ist und politisch denkt. Zweitens müssen die Leute sich organisieren und eine Gruppe von Personen delegieren, die in ihrem Namen spricht. Jetzt, da das Regime mit einem Plan gekommen ist, braucht es einen Gegenplan. Dann kann verhandelt werden. Eine Transition ist kein Prozess, sondern ein Momentum, ein Pakt. Der muss jetzt geschlossen werden – und zwar nicht nach Regeln, die das Regime diktiert. Die Straße muss auch was zu sagen haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers