Politologe über Bürgerbeteiligung: "Wutbürger sind normale Bürger"

Der Wuppertaler Politologe Hans J. Lietzmann über das Risiko politischer Entscheidungen, Bürger als Experten und warum er den Begriff "Wutbürger" zynisch findet.

Wutbürger, mal lauter mal leiser: In Stuttgart eher lauter. Bild: dapd

taz: Herr Lietzmann, warum reicht es den Bürgern nicht mehr, einfach nur alle vier Jahre ihr Kreuzchen zu machen?

Hans J. Lietzmann: Ich erkläre mir das mit zwei Aspekten. Der erste liegt in der gestiegenen Kompetenz. Wir haben ein Jahr für Jahr steigendes Bildungsniveau und einen Jahr für Jahr besseren Zugang zu Informationen. Dadurch ist das Beurteilungsvermögen unglaublich hoch. Der Streit um Stuttgart 21 hat ja gezeigt, dass Bürgerinitiativen fachlich mit den Experten spielend mithalten können.

Und was ist der zweite Aspekte?

Wir wissen inzwischen, dass politische Entscheidungen keine objektiven Lösungen sind und oft einen offenen Ausgang haben. Solche riskanten Entscheidungen können Experten allein nicht treffen.

Wieso das denn nicht? Das müssen Sie genauer erklären.

Nehmen wir doch zum Beispiel den Atomausstieg. Auch der ist mit Risiken verbunden. Ob ich solch ein Risiko eingehen möchte, muss ich sehr persönlich entscheiden. Oder nehmen wir das Beispiel Verkehrspolitik. Einzelne Experten urteilen in der Regel eher nur über einen, zum Beispiel den verkehrlichen, Aspekt, beachten dabei aber weniger die Umweltaspekte oder die sozialen Auswirkungen.

59 Jahre, ist Professor für Politikwissenschaft. An der Bergischen Universität Wuppertal leitet er die "Forschungsstelle Bürgerbeteiligung".

Wenn die Fragen aber so komplex sind, ist es ja auch für den Bürger nicht leicht, eine Antwort zu finden. Was verlangt eine stärkere Beteiligung dem Bürger ab?

Klar, der Bürger muss sich sehr sorgfältig mit den verschiedenen Kriterien auseinandersetzen und sich eine Expertise aneignen. Die Menschen sollen ja nicht spontan, aus dem Stand heraus, entscheiden: "Finde ich gut" oder "Finde ich nicht gut".

Damit übernehmen die Bürger auch eine größere Verantwortung. Glauben Sie, dass den Leuten, die jetzt mehr Beteiligung fordern, diese neue Verantwortung schon bewusst ist und sie auch bereit sind, diese zu übernehmen?

Ob ihnen das bewusst ist, weiß ich nicht. Aber unsere Erfahrung zeigt, dass wenn man ihnen die Verantwortung gibt, sie diese auch kompetent übernehmen. Dabei entscheiden sie sehr gemeinwohl- und kompromissorientiert und jenseits ihrer eigenen, kurzfristigen Interessen.

Beteiligung bedeutet nicht nur mehr Verantwortung, sondern auch viel Einsatz. Werden die meisten nicht irgendwann die Nase voll davon haben?

Es gibt ja Überlegungen für dauerhafte Bürgerparlamente. Davon halte ich nicht viel. Aber bei so spektakulären Entscheidungen wie etwa über einen Bahnhofsneubau oder Stromtrassen wird es überhaupt kein Problem sein, Leute zu mobilisieren, die sich intensiv und ausgiebig mit Experten beraten und die Bürgerinteressen vertreten.

Wird der Wutbürger die Republik nachhaltig verändert haben oder handelt es sich um eine Trendwelle, die bald wieder abebbt?

Demokratie verändert sich, seit es sie gibt. Wie das genau geschieht, werden wir sehen. Im Übrigen finde ich es sehr zynisch, von Wutbürgern zu reden. Wir beschweren uns ständig über Politikverdrossenheit und eine Individualisierung der Gesellschaft. Die sogenannten Wutbürger sind aber ganz normale, politisch engagierte Bürger, die genauso mal lauter und mal leiser sind, wie die Parlamentarier in Debatten mal lauter und mal leiser sind.

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