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Politischer Analyst zur Weltordnung„Europas Soft Power ist ramponiert“

Die Ausnahmesituation, in der die Hypermacht USA die liberale Weltordnung garantierte, ist Geschichte. Wie soll Europa auf die neue Lage reagieren?

Geopolitik muss neu gedacht werden – die Welt ist aus den Fugen geraten Foto: Mathias Gösswein/plainpicture
Stefan Reinecke
Interview von Stefan Reinecke

taz: Herr Saxer, gibt es eine Renaissance der Geopolitik?

Marc Saxer: Für Europa ja. Europa lebte nach dem Ende des Kalten Krieges in einer historischen Ausnahmesituation, in der die Hypermacht USA die liberale Weltordnung garantierte. Das ist jetzt beendet. Damit kommt die Geopolitik zurück, ob wir das wollen oder nicht. Außerhalb von Europa hat Geopolitik allerdings nie aufgehört. In Asien gibt es keine Zeitenwende. Hier hat man immer geopolitisch gedacht und gehandelt.

taz: Muss die politische Klasse in Deutschland geopolitisches Denken neu lernen?

Saxer: In Deutschland hat der Begriff eine nationalistische, teilweise faschistische Konnotation. Deswegen war er lange verpönt. Aber man kann keinen Politikbereich streichen, weil man die Konnotation nicht mag. Die deutsche Politik denkt noch zu stark in der Logik der liberalen Weltordnung. Man wähnt sich noch immer in einem Systemwettbewerb zwischen Demokratie und Autokratie. Dieses System ist mit dem Machtverlust des Westens und dem Aufstieg von China und Indien obsolet geworden.

wochentaz

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taz: Und wegen Trump?

Saxer: Natürlich. Trump hat die liberale Weltordnung, die die USA gegründet und 80 Jahre garantiert haben, für beendet erklärt. Deren Abstieg hat aber viel früher begonnen.

taz: Handelt Trump irrational?

Saxer: Kühl betrachtet, repräsentiert er Kontinuität und Bruch der US-Politik. Die Abwendung von Europa und die Hinwendung zur Konkurrenz mit China gibt es schon seit Obama. Die USA wollen ihre Ressourcen auf den Wettbewerb mit China konzentrieren, der einzigen Macht, die ihnen gefährlich werden kann. Die USA haben lange versucht, die Europäer dazu zu bewegen, mehr Geld für Militär auszugeben und die USA bei der Eindämmung Chinas zu unterstützen. Das wollten auch Obama, und Biden. Trump hat jetzt einen Cut gemacht – Wenn Europa uns nicht in Asien unterstützt, dann müssen die Europäer eben die Hauptlast der Sicherung Europas tragen. Obama und Biden haben das von den USA gegründete Weltsystem aufrechterhalten, mit den USA als Hegemon. Trump hat sich mit einer multipolaren Welt arrangiert, in der die USA zwar die stärkste Macht sind, aber eine unter mehreren Großmächten. Trump verkörpert also Kontinuität und Disruption. Die eigentliche Disruption ist die Aufgabe der liberalen Weltordnung.

taz: Kehrt damit das 19. Jahrhundert wieder – eine Ordnung mit Regionalmächten, die Einflusszonen kontrollieren?

Saxer: Die neue Ordnung, die sich abzeichnet, hat viel gemein mit dem europäischen Weltsystem des 19. Jahrhunderts. Das bedeutet nicht unbedingt Anarchie. Im Konzert der großen Mächte wird versucht, durch permanenten Interessenausgleich Gleichgewichte herzustellen, um Kriege zwischen den Großmächten zu verhindern. Die entscheidenden Fragen lauten: Wo verlaufen die Grenzen der Einflusszonen? Und wer gilt als Großmacht? Die zentrale Frage ist, ob die EU künftig eine Großmacht sein wird oder zur Einflusssphäre anderer Großmächte degradiert wird.

taz: Henry Kissinger hat gesagt: „Wen rufe ich an, wenn ich mit Europa sprechen will?“ Braucht die EU also militärisch, ökonomisch, politisch eine Zentralisierung von Macht, um in einer multipolaren Welt als Akteur auftreten zu können?

Saxer: Die EU verfügt über enorme ökonomische Macht, aber über wenig hard power, wenig militärische und diplomatisch-politische Macht.

taz: Will sagen: Europa benötigt gemeinsame Atomwaffen?

Saxer: Perspektivisch ja. Keine der europäischen Mittelmächte ist konventionell auf sich gestellt stark genug, auch Großbritannien und Frankreich sind dies nicht. Ob die britischen und französischen Atomwaffen vergemeinschaftet werden können, bezweifle ich. Es geht eher darum, sie in ein gesamteuropäisches Verteidigungsbündnis ohne die USA zu integrieren. In der Außen- und Sicherheitspolitik sind dramatische Integrationsschritte nötig.

Im Interview: Marc Saxer

ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission und politischer Analyst. Er leitet derzeit das Regionalbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Bangkok. Zuvor war er zehn Jahre lang Chef der FES-Büros in Indien und Thailand. 2021 erschien von ihm die Studie „Transformativer Realismus. Zur Überwindung der Systemkrise“ im Dietz Verlag.

taz: Auch eine europäische Armee? Bislang war die Debatte darum immer ein sicheres Indiz, dass nichts passieren wird. Dass Frankreich seine Atomwaffen unter europäischen Oberbefehl stellt und dass Deutschland auf den Parlamentsvorbehalt bei Militäreinsätzen verzichtet, ist schwer vorstellbar …

Saxer: Ein Grund, warum diese Integrationsschritte bisher immer gescheitert sind, war, dass Deutschland stark auf den Schutz der USA gesetzt hat. Das ändert sich gerade abrupt. Wenn dieses fragile Geschöpf EU ohne verlässlichen US-Schutzschirm in einer Wolfswelt überleben will, in der das Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts bricht, muss es einen Integrationsschritt Richtung Vereinheitlichung gehen. Dabei kann es neue Dynamiken geben.

taz: Welche?

Saxer: Wenn der US-Schutzschild fehlt, dann brechen auch die Rivalitäten zwischen den kleinen europäischen Mächten wieder auf. Wenn Deutschland massiv aufrüstet, wird das auch bei jenen Ängste auslösen, die diese Aufrüstung derzeit fordern. Der Vorteil einer europäischen Armee wäre daher nicht nur Machtprojektion nach außen, sondern auch eine Befriedung über eine Vergemeinschaftung nach innen. Das ist nicht unrealistisch. Das war auch die Logik des Euro. Ein Motiv war damals, das wiedervereinigte Deutschland in eine neue Machtbalance in der EU einzubinden.

taz: Rechtspopulismus und Neonationalismus wachsen in Europa. Ist mehr Macht für die EU, die ja das Hassobjekt aller Rechten ist, angesichts dessen durchsetzbar?

Saxer: Das schlechte Image der EU hat mit deren neoliberaler Verfasstheit zu tun. Viele nehmen Brüssel als Macht war, die Sicherheiten aufgelöst hat. Die EU muss nun als Schutzmacht nach außen und nach innen auftreten. Es wäre klug, mehr Vergemeinschaftung bei der Außen- und Sicherheitspolitik mit weniger Regelungen aus Brüssel in anderen Bereichen zu verknüpfen und Kompetenzen an Staaten und Regionen zurück zu übertragen.

taz: Die EU will bis zu 800 Milliarden Euro in Verteidigung investieren. Deutschland hat für die Verteidigung die Schuldenbremse aufgelöst. Dabei sind die Verteidigungsausgaben der EU jetzt schon höher als die Russlands. Ist diese massive Aufrüstung nötig?

Saxer: Ja. Der entscheidende Punkt ist die strategische Unabhängigkeit Europas. Nur Summen gegenzurechnen reicht dafür nicht. Die europäischen Nato-Streitkräfte sind bewusst und gewollt integriert in US-Strukturen. Viele Fähigkeiten haben nur die Amerikaner. Es geht um Aufklärung, Satelliten-Fähigkeiten, Logistik, Rettungsketten, Rüstungsindustrie und vieles mehr. Deshalb hätten die Europäer auch nicht alleine in Afghanistan bleiben können. Strategische Autonomie bedeutet, dass die Europäer all das selbst können. Diese Emanzipation von den USA und der Aufbau dieser Fähigkeiten wird, wenn man jetzt sofort beginnt, 10 bis 15 Jahre dauern. Europa wird in dieser Zeit enorm verwundbar sein.

taz: Durch wen?

Saxer: Durch die russische Bedrohung und auch durch Erpressungsversuche aus Washington. Es gibt den US-Schutzschirm gegenüber Russland nicht mehr vorbehaltslos. Dieser Realitätsschock ist noch nicht bei allen angekommen. Das zeigen die Illusionen, die es in Europa nach wie vor in Sachen Ukraine gibt.

taz: Inwiefern?

Saxer: Die Europäer sind von den Verhandlungen zwischen USA und Russland ausgeschlossen. Das zeigt mit brutaler Deutlichkeit, dass sie in der Kernfrage ihres Kontinents unwichtig sind. Bei den Verhandlungen geht es um drei Punkte. Trump will eine schnelle Einstellung der Kampfhandlungen in der Ukraine. Zweitens: Wird Russland eine Pufferzone zugestanden, die die Ukraine und Weißrussland und den Kaukasus umfasst? Drittens: Gelingt den USA ein „Kissinger in reverse“? Das bedeutet, dass Russland sich von China ab- und den USA zuwendet. Die beiden letzten Fragen sind völlig offen. Dass Europa nicht am Tisch sitzt, zeigt, wie schwach es ist. Das ist nur der Vorgeschmack dessen, was kommt. So wird es auch in Sachen Grönland zugehen. Das ist die Zukunft, wenn Europa zum Spielball anderer Mächte wird.

taz: Frankreich und Großbritannien und eine Koalition der Willigen wollen einen möglichen Waffenstillstand in der Ukraine mit eigenen Truppen absichern. Ist das ein vernünftiger Schritt, um die Rolle des machtlosen Zuschauers zu überwinden?

Saxer: Nein. Ich halte es für ausgeschlossen, dass europäische Kampftruppen auf ukrainischem Territorium stationiert werden. Das ist Hybris. Auch das britische Militär hält das Szenario „boots on the ground, planes on the air“ für politisches Theater. Das ist ein untauglicher Versuch, Stärke zu simulieren, um wieder ernst genommen zu werden.

taz: Wie soll Europa dann auf den russischen Imperialismus antworten?

Saxer: Europa verfügt auf sich alleine gestellt nicht über die Mittel, Putin militärisch einzuhegen. Deshalb muss es eine politische Lösung anstreben. Dafür muss Europa Russlands Sicherheitsinteressen als legitim anerkennen. Auch wenn wir keine Bedrohung durch das Vorrücken der Nato erkennen, muss Europa die russischen Ängste als legitim anerkennen. Zudem will Russland wieder als Großmacht gelten. Europa muss diese beiden Punkte akzeptieren. Nur so kann ein Gleichgewicht der Kräfte und ein Austarieren der Interessen gelingen.

taz: Aber was, wenn nach dem Ukrainekrieg Angriffe aus Georgien und Moldawien folgen? Oder auf Estland und Lettland, wo ein Viertel der Bevölkerung russisch ist? Ist es nicht nötig, Russland in der Ukraine zu stoppen?

Saxer: Das hat Europa drei Jahre lang mit den USA versucht. Dass das jetzt ohne die USA funktionieren soll, was mit Unterstützung der USA nicht gelang, ist nicht Geopolitik, sondern gefährliches Wunschdenken. Europa muss die Ukraine finanziell und mit Waffen unterstützen. Es ist im Interesse Europas, den Zusammenbruch der Ukraine zu verhindern und sie als souveränen Staat zu erhalten. Das heißt aber, sich von maximalistischen Zielen wie die Rückeroberung der Krim zu verabschieden und einen Interessensausgleich mit Russland zu verhandeln.

taz: Unterschätzen Sie die russische Aggression?

Saxer: Es gibt in Europa zwei bizarre, widersprüchliche Vorstellungen in Bezug auf Russland. In der einen ist Russland so schwach, dass es, wenn Europa nur entschlossen handelt, zusammenbrechen wird. Auf der anderen Seite gibt es die Vorstellung, dass Russland so mächtig ist, dass es, wenn man es jetzt nicht stoppt, durch das Baltikum und Polen bis an den Rhein marschieren wird. Beide Vorstellungen sind falsch.

taz: Das sieht man im Baltikum anders. Dort hält man verstärkte hybride russische Angriffe für möglich …

Saxer: Das ist ein Szenario, auf das man sich vorbereiten sollte. Russische Provokationen und ein Vorstoß auf baltisches Gebiet sind denkbar. Wenn die Nato darauf nicht reagiert, wäre das der triumphale Beweis, dass das westliche Bündnis am Ende ist. Unrealistisch erscheint mir die Vorstellung, dass russische Panzerverbände Riga einnehmen oder einen Eroberungsfeldzug gen Westen starten können.

taz: Europas Macht definiert sich nicht nur über Militär. Reden wir zu wenig über Soft Power?

Saxer: Die Soft Power Europas ist durch seine Doppelstandards ramponiert …

taz: Wegen des egoistischen Umgangs mit Impfstoffen bei Corona, der Unterstützung Israels trotz des Gazakrieges und des dröhnenden Schweigens zur Situation der Palästinenser.

Saxer: Das sind die jüngsten Beispiele. Im Blick des globalen Südens reicht die europäische Doppelmoral bis zum Kolonialismus zurück.

taz: Der geopolitische Diskurs kreist oft um die fünf Großmächte – aber kaum um Lateinamerika, Afrika oder Indonesien. Wenn die kommende Welt aus temporären Bündnissen unterschiedlicher Partner besteht – ist es dann nicht im vitalen Interesse Europas, Koalitionen mit Ländern zu suchen, die keine Großmächte sind?

Saxer: Ja, richtig. Denn trotz der Kritik an westlichen Doppelstandards schauen viele Staaten des globalen Südens ähnlich wie die Europäer auf die Welt. Kleinere und mittlere Staaten wollen keine neoimperiale Ordnung, in denen sie als Einflusszone gelten. Sie haben, wie Europa, ein Interesse an funktionsfähigen multilateralen Institutionen, die die zentralen Probleme – Klimaschutz, Pandemien und wirtschaftliche Entwicklung – gemeinsam bearbeiten. Es ist ja noch offen, ob eine Wolfswelt entstehen wird oder ob eine regelbasierte Ordnung bleibt. Viele Staaten im globalen Süden, auch solche, die nicht als Demokratien gelten, haben Interesse an einer regelbasierten Ordnung, in der nicht das Recht des Stärkeren gilt. Allerdings haben sie kein Interesse an der liberalen Ordnung …

taz: Wo ist der Unterschied zwischen der liberalen und der regelbasierten Ordnung?

Saxer: Die liberal-westliche hegemoniale Ordnung schließt – oder schloss – auch die gewaltsame Missionierung der Welt für Demokratie und Menschenrechte ein. Die Zeit der humanitären Interventionen, des erhobenen Zeigefingers und durch den IWF erzwungener Strukturanpassungsprojekte ist vorbei. Der Gipfel dieses Denkens war die „responsibility to protect“, die im Notfall mehr zählen sollte als staatliche Souveränität. Dieses Modell war global nie mehrheitsfähig. Das ist bei der regelbasierten Ordnung anders. Dieses westfälische Modell …

taz: … benannt nach dem westfälischen Frieden 1648 …

Saxer: … umfasst Souveränität, territoriale Integrität und ganz zentral: Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Europa muss sich Verbündete suchen, um dieses System zu schützen. Auch wenn das kompliziert wird.

taz: Warum ist das kompliziert?

Saxer: Weil Europa dafür auf Macht in den internationalen Institutionen verzichten und die Kräfteverhältnisse im 21. Jahrhundert akzeptieren muss. Europa verliert Einfluss beim IWF, bei Weltbank und UN-Sicherheitsrat, um diese langfristig zu schützen. Es muss aus übergeordnetem Interesse an einer funktionsfähigen, regelbasierten Ordnung Machtverzicht üben. Das ist politisch eine schwierige Operation.

taz: Die globale Vorherrschaft des Westens hat den Universalismus befördert. Wird diese Idee mit der Hegemonie des Westens untergehen?

Saxer: Das ist ein zentrales Problem. Wir dürfen den Universalismus nicht aufgeben, weil die Welt sonst in rivalisierende Stämme zerfällt, die permanent untereinander kämpfen. Wir brauchen eine Art globales Helsinki 2.0. Helsinki war 1975 im Kalten Krieg ein Kompromiss zwischen West und Ost. Beide Seiten erkannten die Menschenrechte an – und die bestehenden Grenzen. Damit verzichteten beide Seiten auf Interventionen in dem jeweils anderen Einflussbereich. Wir brauchen 50 Jahre nach Helsinki ein neues globales Ordnungsmodell. Das wird keine Siegermacht oktroyieren. Es wird von Mächten mit sehr unterschiedlichen zivilisatorischen Hintergründen, chinesischen, indischen, westlichen, ausgehandelt. Universalismus ohne Einmischung – das wäre das positivste denkbare Szenario.

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