piwik no script img

Politische Stimmung in GroßbritannienKein Toaster mehr übrig

Die Wahl in Großbritannien war eine emotionale Abrechnungsorgie​. Labour, Liberale und die Reformpartei profitierten von der Proteststimmung.

Sohn eines Werkzeugmachers: Premierminister Keir Starmer mit Ehefrau Vicoria in der Downing Street Number 10 Foto: Phil Noble/reuters

D ie Spielshow „Queen for a Day“ war in den 1940er und 50er Jahren eine beliebte Sendung im US-Fernsehen. Der Moderator versprach den Teilnehmerinnen Verlockendes. Eine von ihnen würde er zur Königin für einen Tag machen – samt Krone, Thron und roter Rosen. Vorher mussten sie jedoch einem Millionenpublikum ihre Leidensgeschichte erzählen.

Wer die grauenhaftesten Dinge erlebt hatte – Armut, kranke Kinder, prügelnde Ehemänner und Wohnungsbrände –, bekam Geld und eine Waschmaschine. Wer nicht ausreichend gelitten hatte, konnte nur noch auf den Toaster hoffen. Teilnehmerinnen mit schauspielerischem Talent hatten bei der Show die besten Chancen. Umso gekonnter sie schluchzten umso mehr klatschten die Zuschauer im Studio, was das Studiobarometer nach oben trieb.

Kurz vor dem ekstatischen Höhepunkt wurde der seelische Striptease mit Werbeeinblendungen unterbrochen: Kühlschrank-, Schuh- oder Modefirmen priesen ihre Produkte an. Die Leidenskönigin des Tages bekam am Ende den gesamten Plunder geschenkt. Lange bevor der Begriff Greenwashing erfunden wurde, konnten sich Firmen so als „karitativ engagiert“ und „frauenaffin“ verkaufen.

Das Konzept von „Queen for a Day“ scheint auch auf britische Wahlsendungen starken Einfluss genommen zu haben. In den letzten Wochen mussten sich fast alle Politiker seelisch ausziehen, um zu punkten.

Herkunft als Faktor

Rishi Sunak und Sir Keir Starmer betonten unermüdlich ihre Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen (der eine Kind indischer Einwanderer, der andere Sohn eines Werkzeugmachers).

Übertrumpft wurden sie jedoch eindeutig von der Labourpolitikerin Angela Rayner. Sie wuchs als armes Kind einer bipolaren Analphabetin auf. Rayner musste mit 16 ohne Abschluss die Schule verlassen, weil sie schwanger geworden war. Sie erarbeitete sich den Weg aus dem Schlamassel mithilfe der Gewerkschaften. Mittlerweile ist sie eine linke Version von Margaret Thatcher geworden und seit dem 5. Juli die Nummer zwei in Starmers Kabinett.

Starmer ist jedoch keine Reinkarnation des jungen Tony Blair, der 1997 die Menschen begeisterte. Starmer ist ein netter Langweiler, dessen Reden die Zuhörer regelmäßig in den Tiefschlaf versenken. Seine Partei gewann zwar am 4. Juli dank des Mehrheitswahlrechts 411 Sitze, aber nur 33,7 Prozent der Stimmen.

In Wirklichkeit war die Wahl eine emotionale Abrechnungsorgie. Die Wähler konnten sich nur auf einen Punkt einigen: Die Tories hatten fulminant versagt und mussten bestraft werden. Davon profitierten, abgesehen von Labour, auch die Liberalen und die Reformpartei.

Warnungen vor Migration

Obwohl der Liberale Ed Davey nur clowneske Stunts absolvierte, die an Guido Westerwelles Tourbus-Zeiten erinnerten, erhielt er dafür am Ende 72 Sitze. Aus Protest wurde auch Nigel Farages Partei Reform gewählt. Mit seinen Warnungen vor Migration erhielt er über 4 Millionen Stimmen. Reform sorgte auch dafür, dass die konservative Partei restlos implodierte.

Während die Tories sich in den nächsten fünf Jahren mit Schuldzuweisungen zerfleischen werden, hat Reform jetzt die Chance, zur großen rechten Oppositionspartei aufzusteigen. Bei der nächsten Unterhauswahl 2029 wird sie ein ernst zu nehmender Gegner für Labour werden.

Wie gefährlich es ist, das Thema Migration Nigel Farage zu überlassen, hat Tony Blair gerade in einem Artikel in der Sunday Times dargelegt. Es ist nicht das einzige Problem für Starmer. Die Kassen sind leer, und es gilt, unbeliebte Entscheidungen zu treffen.

Der neue Premierminister wird viele verzweifelte Geschichten von sozialer Ungerechtigkeit hören. Rote Rosen wird es für die Bittsteller mit Sicherheit nicht regnen. Die Frage wird eher sein: Wer bekommt wenigsten noch einen Toaster?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Britannien hat jetzt -wieder einmal- die klassische Sysiphos-Aufgabe, wie sie sich in Deutschland, Frankreich, GB und vielen anderen Ländern immer wieder stellt:



    Die Konservativen wirtschaften ein Land ein oder zwei Jahrzehnte runter- behaupten aber den Mythos, sie verstünden etwas von Wirtschaft (weil die Apologeten die alten Uni-Netzwerke von Mitstudenten pflegen, die dort Karrieren gemacht haben).



    Irgendwann wird es dem Wahlvolk zu bunt -z.B. wenn eine Liz Truss innerhalb von 2 Monaten durch Ignoranz fast eine Wirtschaftskrise auslöst...- und wählt Mitte-Links.



    Die dürfen dann die angestauten Probleme abarbeiten - und das bedeutet immer: unpopuläre Maßnahmen werden nötig, um Haushalt, Gesellschaft und Wirtschaft wieder in bessere Verhältnisse zurück zu führen.



    Darüber ist das Wahlvolk dann wahlweise empört oder enttäuscht und wählt wieder die, die den Schaden eigentlich erst angerichtet haben, weil sie nur ihre eigene Klientel bedienen, statt dem ganzen Land, Volk, zu dienen.



    Und das Spiel geht von vorne los.



    Schaun wir mal, wie es in Britannien diesmal läuft...