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■ Politische Konsequenzen des Karlsruher BehindertenurteilsDiskriminierungsverbot zum Billigtarif

Es war ein langer Kampf, den Behindertenverbände und Behindertenbewegung ausfechten mußten, damit sich der Gesetzgeber zu etwas scheinbar Selbstverständlichem bekennt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Dieser schlichte Satz, das war die Hoffnung, könnte Anknüpfungspunkt für eine umfassendere Anti-Diskriminierungs-Gesetzgebung nach US-amerikanischem Vorbild sein, die dann nicht nur, wie es Artikel 3 des Grundgesetzes erst einmal tut, die staatliche Gewalt, sondern die Gesellschaft insgesamt in die Pflicht nehmen sollte. In der sich verändernden Bundesrepublik hatten andere benachteiligte Gruppen ähnliche Überlegungen. Auch Schwule, Lesben, Sinti und Roma, Immigrantinnen und Immigranten fordern, wenngleich bislang vergeblich, Gesetze, mit denen gegen ihre gesellschaftliche Ausgrenzung und staatliche Diskriminierung vorgegangen werden kann. Die Auseinandersetzung um das Benachteiligungsverbot, das der 1994 neugefaßte Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes nun wenigstens Behinderten zugesteht, wird so zu einer um das Selbstverständnis der Gesellschaft. Es geht um die Frage, welche Bürgerinnen und Bürger welche Rechte haben sollen.

Das erste Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das sich mit dieser neuen Vorschrift befaßt, die den Keim für umfassendere Anti-Diskriminierungs-Regelungen in sich birgt, reicht also weit über das vermeintliche Thema „schulische Integration von Behinderten“ hinaus. Es gibt Auskunft darüber, welche Chancen Anti-Diskriminierungs-Regelungen derzeit überhaupt in der Bundesrepublik haben, womit benachteiligte Gruppen hierzulande rechnen müssen, wenn sie Bürger- und Bürgerinnenrechte geltend machen wollen: Die Rollstuhlfahrerin, die, weil sie im Rollstuhl sitzt, daran gehindert wird, eine Straße zu überqueren, da die Bordsteinkanten nicht abgeflacht sind; der Gehörlose, dem ein Kommunikationsrecht versperrt ist, weil kaum irgendwo Schreibtelefone und Gebärdendolmetscher zur Verfügung stehen; die geistig Behinderte, die den überwiegenden Teil ihres Lebens nur mit anderen geistig Behinderten verbringen kann, weil sie Arbeit gerademal in Werkstätten für Behinderte findet. Die Antwort hat das Bundesverfassungsgericht in den zweiten Leitsatz seines Richterspruchs gepackt: Das Recht darauf, nicht wegen einer Behinderung benachteiligt zu werden, findet seine Grenze in fehlenden „Personal- und Sachmitteln“, in „organisatorischen Schwierigkeiten“ und in „schutzwürdigen Belangen Dritter“. Die Wahrnehmung des Grundrechts darf also niemanden stören, sie soll nicht teuer sein und den beteiligten Stellen, die mit der Diskriminierung bisher ganz komfortabel leben konnten, keine allzugroßen Mühen bereiten.

Man nimmt das Anliegen der Benachteiligten durchaus ernst, aber noch ernster nimmt man, daß nichts in Unordnung gerät. Wenn nicht alles in etwa so weiterlaufen kann wie gehabt, gibt es auch keinen Anspruch darauf, daß sich etwas ändert. Das klingt paradox, ist aber in Wirklichkeit nur Ausdruck des Un- Verständnisses von Minderheitenrechten, das die deutsche juristische und politische Kultur prägt: Sie können nützlich sein, sie sind auf jeden Fall schöner Zierat, aber sie werden nicht als prägende Grundlagen der Gesellschaft gesehen. In dem Moment, wo sich mit ihrer Umsetzung die Gesellschaft insgesamt, und sei es auch nur in sehr bescheidenem Umfang, verändern würde, verlieren sie jede Attraktivität.

Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, der der vergleichsweise leicht behinderten und mit relativ geringem Aufwand integrierbaren Ruth S. den Zugang zur Regelschule versperrt, ist das juristische Gegenstück zum Beschluß der Regierungskoalition, die doppelte Staatsbürgerschaft auch nicht für hier geborene Migrantenkinder der x-ten Generation zuzulassen und sie damit weiterhin als Nichtdeutsche von zahlreichen Teilhaberechten auszugrenzen. Die deutsche Gesellschaft ist nicht multikulturell und nicht pluralistisch, nur wer die Normen erfüllt, gehört im umfassenden Sinne dazu: weiß, nicht behindert, heterosexuell (und möglichst männlich). Oliver Tolmein

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