Politische Historie Sachsens: Zwischen Aufbruch und Störrischkeit
Sachsen kann als Wiege demokratischer Ideen und Organisationen gesehen werden – und als Heimat großer demokratischer Vorkämpfer. Ein Essay.
S ind die Sachsen generell rebellisch? Ist der Konflikt zwischen Demokratie und Autoritarismus der politischen Konstellation in Sachsen inhärent? Ähnliche Fragen tauchen oft am Küchentisch auf. Ein Blick auf die Geschichte der Demokratie Sachsens und auf die Theorien von Politologen können helfen, Vermutungen und Interpretationen auszudrücken.
Nicht lange nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fuhr der letzte König Sachsens, Friedrich August III., inkognito durch das Land, welches er seit 1918 nicht mehr regieren durfte. Der volksnahe Blaublüter war noch immer beliebt, obwohl das „rote Sachsen“ nicht nur eine Republik, sondern gar eine Hochburg linker Strömungen war.
Der Text ist aus einem zu den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Rahmen eines Online-Workshops der taz Panter Stiftung entstandenen Ostjugend-Dossier, das durch Spenden finanziert wird: taz.de/spenden
Als die Anwesenheit des Ex-Königs nicht länger unbemerkt blieb, öffnete er das Fenster seiner Kutsche und schleuderte der jubelnden Menschenmenge in breitestem Sächsisch entgegen: „Ihr seid mir scheene Rebbubligahnr!“ (Ihr seid mir schöne Republikaner!)
Diese Anekdote ist emblematisch für die vielen Umbrüche, die die Geschichte Sachsens prägen. Zu Beginn daher direkt der erste „Fun-Fact“: Es hätte gut sein können, dass es Sachsen heute gar nicht mehr gibt. Sachsen war ein Machtfaktor. Als Kurfürsten konnten die sächsischen Herrscher zum Beispiel den römisch-deutschen Kaiser wählen.
Doch nachdem die mit Napoleon verbündeten Sachsen ihr Waterloo erlebten, war es um diesen Einfluss geschehen. Gleich zweimal, 1815 und 1866, konnte nur knapp verhindert werden, dass Sachsen von Preußen vollständig annektiert wurde.
Dresden als Traumziel der Anarchisten
Dafür nahm der nunmehr politische Zwerg eine Vorreiterrolle bei der Industrialisierung ein. Die Entwicklung von Textil-, Maschinenbau- und Schwerindustrie führte dazu, dass 1839 die erste Ferneisenbahnstrecke Deutschlands zwischen Dresden und Leipzig eröffnet wurde. Die plötzliche Entstehung einer großen Arbeiterschicht brachte natürlich sozialen Sprengstoff mit sich, der sich aufgrund der schleppenden politischen Reaktion auf diese Veränderungen auch entladen sollte.
Sachsen hatte eine der konservativsten Regierungen Deutschlands. Diese Unwilligkeit zu demokratischen oder gar sozialen Reformen veranlasste die Bevölkerung zum Handeln. Bereits in den beiden Revolutionen des 19. Jahrhunderts waren die Sachsen aktiv. Besonders 1849 trotzten die Bürger der autoritären Gegenrevolution.
Als das Paulskirchenparlament schon entmachtet war, jagten die Dresdner den König aus der Stadt (wenn auch nur für einige Tage). Kulturelle Berühmtheiten wie Richard Wagner, aber auch der anarchistische Anführer Michail Bakunin halfen dabei – Man stelle sich vor: Dresden als Traumziel der Anarchisten!
Auch wenn diese illustren Persönlichkeiten die Monarchie nicht von der Rückkehr abhalten konnten, wollten sich die Menschen nicht bevormunden lassen. So wurde das „rote Sachsen“ geboren. 1863 wurde mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein die erste gesamtdeutsch orientierte demokratische Arbeiterpartei Deutschlands in Sachsen gegründet.
Auch die erste sozialdemokratische Tageszeitung, Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund, entstand sieben Jahre später. Die Meißnerin Louise Otto-Peters wurde auf der ersten Frauenkonferenz Deutschlands 1865 in Leipzig die Vorsitzende der ersten Frauenrechtsorganisation im Land. Diese Aufzählung könnte noch weitergeführt werden. Aber eins ist klar: Die Friedliche Revolution 1989 konnte bereits auf eine lange Tradition an sächsischem Aktivismus blicken.
Die Globalisierung als große Transformation
Und nun? Die Politologen Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan erklären in der Cleavage-Theorie den Erfolg von neuen Parteien. Ihr Argument: Unsere Demokratie lernt aus tiefen gesellschaftlichen Veränderungen, indem neue Parteien, die von dem Umbruch profitieren, durch den Wahlerfolg in die politischen Prozesse eingebunden werden. Es gibt nur wenig bessere Beispiele für diese Theorie als die hier betrachtete Epoche der sächsischen Geschichte: Mit der schnellen industriellen Revolution wurden linke Gruppierungen erfolgreich.
Was kann uns diese Theorie jedoch für die heutige Zeit lehren? Uns wird das Privileg zuteil, eine weitere Transformation zu durchleben: die Globalisierung. Politisch spüren wir das unter anderem am Aufstieg der Populisten. Wenn wir Letzteren etwas entgegensetzen möchten, so lehrt uns die Cleavage-Theorie: Es reicht nicht, sich in Wort und Tat nur an diesen Strömungen abzuarbeiten. Wir sollten hingegen unser gesamtes politisches System anschauen und uns fragen, wie wir es reformieren können, um mit der Globalisierung mitzuhalten.
Heute sind auch wir „scheene Rebbubligahnr“ – hin- und hergerissen zwischen dem Festhalten am Altbekannten und dem Aufbruch in die sich verändernde Welt. Gestalten wir diesen Wandel aktiv mit!
Vincent Raab, 24, geboren und aufgewachsen in Radebeul, Kulturmanager. Vorsitzender der in Zwickau ansässigen NGO ForViD e.V., welche sich für innovative politische Bildung und für eine offene Debattenkultur in (Ost-) Deutschland einsetzt.
FOTO: Tim Gassauer, 27, aufgewachsen in Thüringen, lebt und arbeitet als Fotograf zwischen Berlin und Chemnitz.
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