Politische Graffiti in Göttingen: Kunst oder Sachbeschädigung?
Im Streit über Graffiti hat die Stadt noch keine Entscheidung getroffen. Der Staatsschutz ermittelt weiter. Das Museum will die Bilder bewahren.
![Ein Graffiti zeigt eine Maus, die durch einen zerschnittenen Stacheldrahtzaun blickt. Ein Graffiti zeigt eine Maus, die durch einen zerschnittenen Stacheldrahtzaun blickt.](https://taz.de/picture/4631812/14/185058758_48b3006fc5-1.jpeg)
Die Graffiti stießen gleich nach Bekanntwerden in der Öffentlichkeit auf viel Zuspruch, in sozialen Medien wurden sie schnell verbreitet. Unter anderem sicherte die Göttinger Fotografin, Web-Designerin und Bloggerin Katrin Raabe die Bilder auf ihrer Homepage. Grünen- und Linkenpolitiker aus der Region fordern ebenso den Erhalt der Kunstwerke wie der Verein „Stellwerk“. Das Netzwerk der Göttinger Kreativwirtschaft mit nach eigenen Angaben 85 Mitgliedern hat angeregt, die Wandgemälde als hochauflösende Fotografien im Fotoarchiv des Museums für die Zukunft zu bewahren.
„Es geht hier nicht bloß um Sachbeschädigung oder um die Frage, ob es sich dabei um Kunst handelt“, sagte Göttingen Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) der taz. Die Aufrufe, die Stimme für die Stärkung von Frauenrechten zu erheben und für sichere Häfen zu sorgen, „kann man als politisch verstehen und diese Inhalte unterstützen wir als Stadt und ich als Oberbürgermeister“.
„Eine Aufforderung zu Gewalt kann und werde ich allerdings nicht dulden“, so Köhler mit Blick auf einen Teil des Wandgemäldes, der das Gebäude des Neuen Rathauses mit dem Schriftzug „Kommt Zeit – kommt Rat – kommt Farbanschlag“ übertitelt. Kritik zu äußern und sich mit den schwierigen Themen unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen sei zwar wichtig. Allerdings sei schon der Aufruf zu Gewalt wie beispielsweise Farbanschlägen das absolut falsche Mittel, um sich für eine Sache einzusetzen. Neben der juristischen Bewertung wäge die Stadt folglich ab, inwieweit inhaltlich auf das Graffiti reagiert werden soll.
Andrea Rechenberg, Leiterin Städtisches Museum Göttingen
Aus Sicht des Göttinger Museums handelt es sich bei den Graffiti um erhaltenswerte „Kunst im öffentlichen Raum“. „Wir haben uns gefreut, dass ‚Stellwerk‘ uns die Fotodokumentation angeboten hat“, sagte Museumsleiterin Andrea Rechenberg der taz. Das Museum verfüge über ein großes Fotoarchiv, das auch viel für wissenschaftlich Zwecke genutzt werde. „Wir sehen es daher als unsere Aufgabe, diese Bilder und die dazugehörige Auseinandersetzung um deren Inhalt zu dokumentieren.“ Denn auch diese Auseinandersetzung sei von stadtgeschichtlichem Interesse.
Im Übrigen sei „die Geschichte voll mit Berichten über Bilderstreite“, so Rechenberg. „Sie sind immer symptomatisch für die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse einer Zeit.“ Die strittigen Graffiti bildeten aktuelle politische Themen ab, die breit in der Gesellschaft diskutiert würden. Ein Museum sammele und dokumentiere ja auch für spätere Generationen. Diese wollten wissen, „wie wir zu unserer Zeit mit gesellschaftlichen Herausforderungen umgegangen sind, worüber gestritten wurde oder was Konsens war.“
Unterdessen ermittelt die Polizei weiter gegen die Urheber der Graffiti. Sie geht „aufgrund der Inhalte von einer politisch motivierten Protestaktion aus“, deshalb habe das Staatsschutzkommissariat Ermittlungen wegen Sachbeschädigung aufgenommen. Weil die Erstellung der Graffiti „vermutlich mit einem gewissen Zeitaufwand verbunden gewesen“ sei, hofften die Ermittler/innen auf Zeugen, die das Vorhaben beobachtet hätten. Die Polizei habe gar keine andere Wahl gehabt, als den Staatsschutz einzuschalten, begründete Sprecherin Jasmin Kaatz gegenüber der taz die polizeilichen Abläufe. Wenn ein politischer Hintergrund einer Straftat angenommen werde, komme automatisch der Staatsschutz ins Spiel.
Sachbeschädigung gehört zu den relativen Antragsdelikten. Antragsdelikte sind zunächst Straftaten, denen die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich nur auf Antrag des Geschädigten nachgehen. Relative Antragsdelikte können hingegen auch ohne Strafantrag durch den Geschädigten verfolgt werden, wenn die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht. Im Fall der Graffiti hatte die Stadt Anzeige gestellt.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird