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Politische Chiffren

Der inszenierte Liederzyklus ohne Liebesgeschichte: „Die Winterreise“ von Schubert

Franz Schuberts Zyklus „Die Winterreise“ – im Repertoire fast jeden Sängers – ist eines der erschütterndsten, aber auch deutlichsten Werke politischer Musik.

Geschrieben in seinem Todesjahr 1828, spricht er von einem der wirkungsvollsten Spitzelsysteme der Diktatur im österreichischen Wien unter Metternich, in dem über 20 Prozent der Privatbevölkerung Spitzel waren. Der biographische und politische Hintergrund des Dichters Wilhelm Müller und des Komponisten Franz Schubert, die Chiffrierung von Kunst in der Diktatur brachte den Opernregisseur Jochen Biganzoli auf die Idee einer szenischen Darstellung, die der Sänger Björn Waag und der Schauspieler Erik Roßbander realisieren. Am Sonntag (19.30 Uhr) hat sie in der Bremer Shakespeare Company Premiere.

taz: Herr Biganzoli, wir haben diesen berühmten Liederzyklus von Franz Schubert, den einige noch immer für die Geschichte einer verlorenen Liebe halten. Wie sind Sie auf die Idee einer szenischen Präsentation gekommen?

Jochen Biganzoli: Ich halte die Texte alle für politische Chiffren. Wir haben es mit zwei Künstlern zwischen zwei Revolutionen – 1789 und 1848 – zu tun, denen war nur der Rückzug möglich. Als ich dann las, dass zu Schuberts Zeit in Wien 2.000 Zensoren allein dafür tätig waren, Kunst zu prüfen und sie zu verbieten, war mir klar, dass die Kunst natürlich die politische Gegenwart chiffriert. Und dann habe ich nach einem Weg gesucht, wie man das heute und unmittelbar verstehen könnte. Ich habe die Zeit 1989 kurz vor dem Mauerfall gewählt. In einem stillgelegten Ostberliner U-Bahnhof, durch den aber Westbahnen durchfahren, treffen sich zwei – ein Sänger und ein Schauspieler – und sprechen miteinander.

Haben Sie einen Dialog geschrieben? Mit welchem Material?

Nein. Ich benutze nur originalen Text aus den Schriften von Wilhelm Müller und Franz Schubert. Schubert und Müller haben sich nie kennen gelernt – was wäre passiert wenn? Aus diesem Motiv habe ich die Begegnung zweier ostdeutscher Intellektueller, die sich kennen lernen, konstruiert, um zu erreichen, dass die Texte in einem politischen Kontext stehen.

Sie sagten, dass Müllers und Schuberts Kunst sich in Chiffren äußert. Wie zum Beispiel?

Das Wandern: Das ist die Auseinandersetzung mit dem Wegmüssen. Aber wenn man das letzte Lied nimmt: „Willst zu meinen Liedern Deine Leier dreh‘n?“, dann wird klar, dass es eine Zeit ist, aus der es keinen Ausweg gibt.

Aber es gibt doch auch eine private Liebesgeschichte: „Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh’“?

Nein. Damit sind für mich ganz klar die Erinnerung an die Hoffnungen und die Versprechen der Revolution von 1789 gemeint. Auch „Der Tag des ersten Grusses“ sind Erinnerungen an Ideale, die aber in der Metternich Zeit wieder eingestampft wurden. Bei Müller und Schubert heißt es: „Ich bin zu Ende mit meinen Träumen.“

Wie sind die Ansichten von Björn Waag und Erik Roßbander miteingeflossen?

Sie haben den Stückprozess sehr stark beeinflusst. Den „Frühlingstraum“ zum Beispiel hatte ich als Wessi so gedeutet: Die Mauer muss weg. Rossbander, der aus dem Osten stammt und dessen Bruder im Gefängnis saß, korrigierte mich da: Wir hatten nur ganz konkrete Träume, mal nach Paris zu fahren ... durch diese Erfahrungen hat sich einiges anders entwickelt, als ich es vorher dachte.

Wilhelm Müller träumte davon, seine Gedichte vertont zu sehen ...

Ja. Ich denke, auch von daher kann ich eine Verzahnung von den Liedern und Texten wagen, zumal ich Müller für einen deutlich unterschätzen Lyriker halte.

Fragen: Ute Schalz-Laurenze

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