Politikwissenschaftler zu Syrien: „Assad hätte die Kurve kriegen können“
Diejenigen, die in Syrien für Wahlen kämpfen, werden nicht die sein, die sie gewinnen. Und die, die Wahlen gewinnen könnten, kämpfen nicht, sagt der Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik.
taz: Herr Perthes, Sie sind ein ausgewiesener Kenner der syrischen Regierung. Haben Sie auch, so wie Herr Todenhöfer, um ein Interview mit Baschar al-Assad ersucht?
Volker Perthes: Nein, Baschar al-Assad ist niemand, der sich mit Wissenschaftlern trifft. Außerdem: Wenn ein Diktator ein Interview gibt, dann will er Garantien haben, dass er sich auf eine ihm genehme Weise präsentieren kann. Es ist nicht meine Aufgabe, die Darstellung eines Regimes zu fördern.
Arbeitet sich die deutsche Öffentlichkeit zu sehr an den Machthabern ab?
leitet seit 2005 die Stiftung Wissenschaft und Politik. Er hat zahlreiche Bücher zu Syrien, Iran und der Arabellion verfasst. Zuletzt erschien: „Der Aufstand: Die Arabische Revolution und ihre Folgen" (Pantheon).
Das finde ich nicht. Die Medien lassen die Opposition und die Zivilgesellschaft doch zu Wort kommen. Und etwa das Auswärtige Amt oder auch das BMZ, führen sehr sinnvolle Projekte zur Unterstützung der Zivilgesellschaft durch. Hier geht es darum, wie man die Wirtschaft nach einem Systemwechsel wiederaufbaut, wie das mit der Justiz oder der Verfassung am Tag danach aussieht.
Manche sagen, nicht nur Russland will keinen Regimewechsel, sondern auch die USA wollten Assad halten. Hinsichtlich Israel – Stichwort Stabilität – hat er ja gut funktioniert.
Das ist eine interessante Verschwörungstheorie. Richtig ist, dass zu Beginn der Aufstände die USA, Katar, Saudi-Arabien und auch die Türkei keinen gesteigerten Wert auf einen neuen Unruheherd in der Region legten. Man war ja schon mit Ägypten und Tunesien beschäftigt.
In den ersten drei Monaten des Aufstands, also von März bis Mai 2011, hat Frau Clinton Assad als „Reformer“ bezeichnet, und damit zu einem Zeitpunkt, an dem ich das schon sehr unangemessen fand. Allerdings: Wenn Assad gewollt hätte, hätte er die Kurve kriegen können. Es hätte den großen Absturz nicht geben müssen.
Wie schätzen Sie das gegenwärtige Kräfteverhältnis in Syrien ein?
Noch hält das Regime ziemlich eng zusammen. Etwa 20 Prozent der Syrer stehen noch hinter Assad. Wir können das natürlich nicht genau sagen, aber die Zahlen halten auch oppositionsnahe Forscher für realistisch.
Sie reden von den Alawiten, Händlern und den Minderheiten?
Nein, das ist zu einfach. Es gibt auch Alawiten oder Christen in der Opposition. Weitere 25 bis 30 Prozent stehen nicht hinter Assad, aber auch nicht aufseiten der Opposition. Sie haben einfach Angst vor einem Bürgerkrieg. Das ist menschlich. Wären wir Syrer, vielleicht gehörten wir auch zu ihnen.
Und auf der anderen Seite?
Da sind vielleicht 20 Prozent bereit, auch ihr Leben für einen Wechsel zu opfern. Und vielleicht 20 bis 25 Prozent wollen unbedingt den Wechsel, aber riskieren dafür nicht ihr Leben.
Sind 40 bis 50 Prozent denn genug, um einen Regimechange zu legitimieren?
Welche Revolution hat schon eine 90-prozentige Unterstützung? Außerdem: Selbst wenn 30 Prozent der Syrer noch hinter Baschar stehen – er treibt das Land in den Abgrund.
Was folgt daraus?
Idealerweise sollten Assad und seine Familie das Land verlassen.
Die „jemenitische Lösung“?
So unschön das ist: Es gibt zur Verhandlung mit den Machthabern keine Alternative. Beziehungsweise heißt die Alternative Bürgerkrieg.
Wer könnte heute für eine Übergangsregierung infrage kommen? Die Auslandsopposition ist ja doch arg zerstritten.
Ja, in der Auslandsopposition herrscht keine vernünftige Gesprächskultur, die einen bezeichnen die anderen als Verräter, das ist nicht gut. Aber: Die meisten Mitglieder des Oppositionsrates haben ja bis vor Kurzem in Syrien gelebt, sie sind in einem diktatorischen System sozialisiert worden. Wo sollten sie eine Streitkultur gelernt haben?
Und in Syrien selbst?
Dort haben wir die „No-Name-Opposition“ und die vielen Organisationskomitees, wo junge Leute seit eineinhalb Jahren dafür sorgen, dass Leute unter großen Gefahren auf die Straße gehen und wir per YouTube-Videos darüber informiert werden. Führungsstrukturen gibt es dort kaum – und es ist auch gut, dass diese Leute ohne Namen sind. Denn wären sie bekannt, würden sie möglicherweise nicht überleben. Sie sind das Rückgrat der Revolte.
Könnten dieses „No-Names“ eine Übergangsregierung formen?
Die traurige Antwort ist: Ich glaube nicht. Die jungen Leute werden nicht diejenigen sein, die morgen in den Ministerien sitzen. Ich bin immer sehr beeindruckt von diesen Leuten, sie riskieren sehr viel, und ihnen geht es nie um die Macht. Das unterscheidet sie von vielen Exilpolitikern. Sie wollen einfach das Regime weghaben. Die Parteien werden andere gründen.
Das ist nicht sehr strategisch.
Nein, aber es ist ethisch hoch verantwortlich. Es wird in Syrien ähnlich sein wie in Ägypten oder Tunesien: Die Leute, die die Wahlen möglich gemacht haben, werden nicht die Gewinner der Wahlen sein. Und die Gewinner der Wahlen werden sie nicht möglich gemacht haben. Vielleicht ist das auch eine Form von revolutionärer Arbeitsteilung. War das in der DDR nicht genauso? Die, die hinterher gewählt wurden, kamen ja erst, nachdem andere protestiert und das System „abgenutzt“ haben.
Wird Syrien der nächste Failed State?
Das ist meine Angst. Je länger der Bürgerkrieg jetzt dauert, desto schwieriger wird es, das Land anschließend wieder zusammenzubauen. Schon jetzt gibt es erste Gewalt auf ethnischer Grundlage. Wir kennen das aus Libanon oder aus Bosnien. Diese Gewalt löst eine enorme Dynamik von Rache und wieder Rache aus. Jeder Tag mehr macht es schwieriger, nicht nur einen Staat, sondern auch eine Gesellschaft wiederaufzubauen.
Wie groß ist die Gefahr für Israel?
Die Israelis hätten einen Friedensvertrag mit Syrien haben können. Assad war dazu bereit, aber es kam nicht dazu. In Ägypten können wir sehen, dass auch die Nachfolger von Mubarak nicht gegen Israel vorgehen. Ohne Friedensvertrag aber wird das schwieriger. Umso wichtiger ist es, den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden und anschließend alle an einen Tisch zu bekommen.
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