Politiker über Tunesien nach Revolution: „Zeit der Zerstörung ist vorbei“
Der tunesische Zentrumspolitiker Mustapha Ben Ahmed erklärt, warum die neue Demokratie nur mit Mitgliedern der alten Staatspartei aufgebaut werden kann.
taz: Wie kommt jemand wie Sie, Veteran der Gewerkschaft UGTT, gestandener Marxist, in den Vorstand einer Zentrumspartei wie Nida Tounes?
Mustapha Ben Ahmed: Das ist das Ergebnis eines Denkprozesses, ausgelöst durch die politische Situation Tunesiens und durch das Kräfteverhältnis, das wir nach den ersten freien Wahlen vorfanden. Die islamistische Ennahda wurde stärkste Partei und ist seither an der Macht. Das hat zu einer sehr prekären Situation geführt, die die Demokratisierung bedroht. Die wichtigste Aufgabe ist, eine Kraft aufzubauen, die den Islamisten etwas entgegensetzen kann, indem sie breite Teile der Bevölkerung und vor allem die Mittelschichten mobilisiert.
Ist das nicht eine völlige Reduzierung der Politik auf den Konflikt Religion kontra säkulare Gesellschaft?
Um eine echte Demokratie aufzubauen, braucht es eine gesellschaftliche Grundlage. Wir brauchen eine Klasse, die für Stabilität sorgt. Erst wenn das gelungen ist, können wir uns einem echten Pluralismus widmen. Bei den Islamisten gibt es verschiedene Strömungen, aber sie haben eine gemeinsame Grundlage gefunden. Es geht ihnen darum, die Scharia einzuführen. Auf der Gegenseite haben wir das säkularen Lager, das von der extremen Linken bis zu Liberalen reicht. Der Wunsch nach einer demokratischen, säkularen Gesellschaft, einer zivilen statt einer religiösen Republik, eint alle. Jetzt ist dies die wichtigste Frage, alles andere ist zweitrangig.
Nida Tounes hat eine Menge Mitglieder aus dem alten Regime.
Das ist ein sehr vager Vorwurf. Es gibt kein neues Regime, damit können wir auch nicht von einem alten Regime reden. Verwaltung, Justiz, Polizei und Armee sind dieselben geblieben. Nur die Staatsspitze hat sich geändert. Wir hatten eine diktatorische Macht, die in der Hand von Präsident Ben Ali und seiner Familie lag. Zwei Millionen der knapp elf Millionen Tunesier gehörten der RCD, der Staatspartei, an. Diese zwei Millionen unterstützten bei Weitem nicht alle Ben Ali. Sonst wäre die Revolution nicht möglich gewesen.
gehört seit 1999 dem Vorstand der tunesischen Gewerkschaft UGTT an. Er ist Gründungsmitglied der Zentrumspartei Nida Tounes, die bei Umfragen hinter den Islamisten von Ennahda auf Platz zwei liegt.
Das heißt, Sie wollen die Leute aus der RCD integrieren?
Wir können doch nicht zwei Millionen Tunesier ins Meer treiben. Die Korrupten und die echten Unterstützer Ben Alis, die sich die Hände schmutzig gemacht haben, machen höchstens 50.000 aus. Die große Mehrheit der RCD-Mitglieder litt genauso unter Ben Ali wie der Rest der Tunesier. Sie sind in der Verwaltung tätig, sie arbeiten in Staatsbetrieben, sind kleine Händler oder Geschäftsleute. Die gesamte tunesische Gesellschaft muss sich erneuern, nicht nur diejenigen, die gerne als Leute des Regimes bezeichnet werden. Denn niemand hier weiß, wie es ist, unter demokratischen Verhältnissen zu leben.
Der Staat hat sich nicht verändert, die Institutionen sind die gleichen. Wäre es nicht logischer, für eine totale Revolution zu streiten, statt Stabilität zu suchen?
Was heißt totale Revolution? Dass sich eine Klasse über die andere erhebt und sie von der Macht verdrängt? Das war so in der Französischen Revolution, als das Bürgertum den Feudalismus zerschlug. Ein anderes Beispiel ist die Oktoberrevolution, in der eine Klasse von Intellektuellen, die sich mit der Arbeiterklasse identifizierte, das Zarenregime stürzte. Das letzte Beispiel ist die Iranische Revolution. Mit der Entwicklung, die die Welt seither durchlaufen hat, mit der Globalisierung liegt die wirtschaftliche Macht in den Händen bestimmter Lobbys, die meist mächtiger sind als die Staaten selbst.
Die Frage der Souveränität, die eine der wichtigsten Fragen der Revolution war, wird immer unbedeutender. Die Veränderungsprozesse sind daher heute anders als früher. Sie werden von der internationalen Gemeinschaft beobachtet und begrenzt. Schauen wir nach Osteuropa. Dort wurden die neuen Demokratien mit den Leuten des alten Regimes aufgebaut.
Ist Osteuropa Ihr Vorbild?
Alle Veränderungen werden so aussehen. Die internationale Gemeinschaft versucht, Veränderungen friedlich verlaufen zu lassen. Das war in Spanien nach Francos Tod so. Das ist in Südafrika so, wo eine Formel der Aussöhnung gefunden wurde. Die Zeit der völligen Zerstörung des Alten, um etwas Neues aufzubauen, ist vorbei.
Das säkulare Lager redet viel von Modernität. Das hat Ben Ali auch getan. Für viele Menschen hat sich die soziale Lage dennoch nicht verändert. Die Islamisten profitieren davon.
Es stimmt, Ennahda nutzt die Armut. Sie sind in den vernachlässigten Regionen stark. Hinzu kommt die Tradition. Der Islam mischt sich in alle Bereiche des Lebens ein. Nach der Unabhängigkeit hat der erste Präsident Bourguiba wichtige Reformen durchgeführt. Aber es entstand dennoch kein säkularer Staat wie in Europa.
Tunesien zeigt, dass Modernität nicht unbedingt Freiheit bedeutet.
Als Tunesien unabhängig wurde, stand die Frage der Demokratie in der Dritten Welt nicht auf der Tagesordnung. Um eine Demokratie aufzubauen, müssen zuerst einmal die Kräfte der Gesellschaft befreit werden, angefangen bei den Frauen. Es braucht Schulbildung, ein Gesundheitssystem und bessere Lebensbedingungen. Nur so werden die Menschen tatsächlich in die Lage versetzt, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Das wurde alles erreicht. Erst in den 1970er Jahren, als die erste Generation der Unabhängigkeit herangewachsen war, wurde die Forderung nach Demokratie laut. Der Staat versagte. Er respektierte diese Entwicklung der Gesellschaft nicht.
Und jetzt ist die Gesellschaft für eine demokratische Entwicklung bereit?
Ein Großteil ja, auch wenn es noch immer Teile der Bevölkerung gibt, die in Armut leben und andere Probleme haben als eine plurale Gesellschaft.
Aber die Islamisten haben die Wahlen gewonnen.
Ja, aber sie sehen sich einem Widerstand der tunesischen Gesellschaft gegenüber, der die zivilen Errungenschaften verteidigen will – die Freiheiten, die Rechte der Frauen, das moderne Bildungssystem, eine offene Kultur. Jetzt geht es darum, diese Kräfte zusammenzufassen.
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