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Politik-Rhetorik auf dem taz.labDas verweigerte Gespräch

Der Bürger ist zum Auslaufmodell der politischen Rede geworden. Weshalb er keine Erwähnung mehr in der Polit-Rhetorik erhält?

Wenn Merkel spricht, hört man zu und nickt geräuschlos ab Bild: dpa

Wovon lebt die Demokratie? Angela Merkel sagte 2005, Vertrauen sei das Schmiermittel der Demokratie. Im technokratischen Denken der Bundeskanzlerin gilt Vertrauen als geräuschloses Funktionieren der Demokratie.

Das ist erstaunlich. Wenn sie sich selbst beobachtete, würde Frau Merkel sehr schnell den blinden Fleck in ihrer Präferenz für wortloses Funktionieren erkennen. Politik lebt vom Gespräch: in Parteigremien, im Koalitionsausschuss, im Vertrauensgespräch für Hintergrundinformationen, im inszenierten Gespräch einer Bundestagsdebatte. Merkel reduziert den politischen Prozess der Demokratie auf das geräuschlose Abnicken.

Die Bürger, Einwände und ihr Eigensinn erscheinen aus diesem Blickwinkel als Störung des Betriebsablaufs, nur in kleinster Dosis zumutbar. Im Dienstplan der Macht bleibt für die Bürger die Funktion von Statisten im TV-Studio. Zahllose kluge Artikel, in denen das Fehlen der „Erklärkanzlerin“ (Wulf Schmiese) oder das leere Reden von Merkel (Dirk Kurbjuweit) beklagt wird.

Hans Hütt

geboren 1953, ist freier Autor, Journalist und trainiert Menschen im guten Gebrauch von Wörtern.

Er studierte Politikwissenschaft, Psychologie, Musikwissenschaft, Empirische Kulturwissenschaft, Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft in Tübingen und Berlin.

In der Sehnsucht nach der großen Rede der Kanzlerin erscheint ein anderer blinder Fleck. Auch Journalisten betreiben politischen Paternalismus, glauben, besser zu wissen, welche Entscheidung die richtige wäre. Warum übersieht die Vierte Gewalt, dass die Bürger in politischen Reden nicht mehr vorkommen? Was Kurbjuweit und Schmiese kritisieren, trifft - aber sie verfehlen den entscheidenden Webfehler des politischen Redens.

Das überrascht, in Foren der reichweitenstarken Medien wimmelt es von Einsprüchen, rasender Wut und nachdenklichen Analysen. Alle Formate von offener Rebellion bis zum gut abgehangenen Goethezitat treffen dort aufeinander. Die Diskrepanz ist aus einem weiteren Grund bemerkenswert: Noch nie wurde der Souverän so genau beobachtet, vermessen und gewichtet. Noch nie waren Politik und Medien so gut im Bilde, was die Bürger denken und was sie bewegt. Aber in dem einzigen analogen Format der Politik, in dem die Politik die Lage beschreibt, in den politischen Reden kommen die Bürger und ihr Eigensinn nicht vor.

Das führt zu absurden Situationen. Nehmen wir irgendein Thema, wie die Gleichstellung von eingetragenen Partnerschaften mit der Ehe: In jedem „gebauten“ Fernsehbeitrag kommen ein paar Bürger zu Wort - und verschwinden aus dem Kurzzeitgedächtnis, noch bevor zum Kommentar aus Berlin weitergeschaltet wird. Die Stimmen der Bürger degenerieren zu einer Inszenierung des Dabeigewesenseins.

Ähnlich sieht es in den Rathäusern aus, in denen die Kanzlerin huldvoll den Dialog mit den Bürgern zu führen scheint - aufwendig inszeniert erheben sie das routinierte Nichtssagen in eine neue Dimension. Solche Veranstaltungen können wir als Symptom eines Phantomschmerzes lesen. Der Schmerz erzählt, was fehlt: die Stimmen und der Eigensinn der Bürger.

Dabei lebt die politische Rede von der Idee, das Gespräch mit den Bürgern zu führen, ihre Einwände zur Kenntnis zu nehmen, ihre Fragen zu beantworten, sich an den stärksten Einwänden der Gegner zu messen und so einen Meinungswandel zu ermöglichen. Selbst den Grünen, die in ihrem Wahlprogramm von 2009 für einen neuen Gesellschaftsvertrag plädierten, ist nicht aufgefallen, dass die vertragschließenden Bürger dazu erst am Wahltag gehört wurden.

Warum ist das so? Wir können die Antwort darauf in der Rhetorik der Bundeskanzlerin finden. Sie maskiert erfolgreich die dauerhafte Krise als Normalität. Im Befund, dass wir uns in einem langwierigen krisenhaften Ausnahmezustand befinden, ist sich die politische Klasse einig. Deswegen ist es umso wichtiger, die Bürger im Gespräch über die Lage der Nation zu Wort kommen zu lassen. Denn sonst befördert „alternativlose Politik“ in „marktkonformer Demokratie“ das Geschäft sehr unerfreulicher Alternativen.

Hans Hütt analysiert im Gespräch mit Ulrich Schulte auf dem taz.lab die Rhetorik von Merkel, Steinbrück und Co.

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4 Kommentare

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  • L
    Leser

    Die Gesellschaft ist fragmentiert, gespalten, bunter geworden. Siehe Amazon-Debatte: 50 % für Mindestlohn, 50 % ist der Preisvorteil wichtiger und nenne Niedrigklöhner Versagen.

     

    Welchen Bürger also meint der Autor? Meint er damit sich selbst? Soll alles nach seiner Pfeife tanzen? Die Pfeife seines Nachbarn hat aber bereits eine andere Melodie.

  • T
    tazitus

    "..Hans Hütt analysiert im Gespräch mit Ulrich Schulte auf dem taz.lab die Rhetorik von Merkel ..."

    Ist es neuerdings möglich, das Nichts zu analysieren?

     

    Darauf ein "Hütt" naturtrüb.

    http://www.huett.de/produkte/bierspezialitaeten/naturtrueb/

     

    (Am besten mal die Knallhütte in Baunatal bei Kassel besuchen. Dort lebte Dorothea Viehmann, die den Brüdern Grimm Märchen erzählte.

  • A
    anke

    Ich finde, der Bürger ist inzwischen alt genug. Mit rund 2.400 Jahren könnte er langsam begreifen, dass auch Herrscher Menschen sind.

     

    Dass unsere Einwände zur Kenntnis genommen, unsere Fragen beantwortet werden, erwarten wir alle. Leider macht der Wettbewerb in einer Konkurrenzgesellschaft vor den Türen der Abgeordnetenbüros nicht halt. Es gilt als Ausdruck von Stärke und Erfolg, wenn man mehr nehmen kann als man geben muss. Wer zu messen vermag, ohne sich selbst messen zu müssen oder von anderen vermessen zu werden, der ist Boss. Nicht nur im Kanzleramt oder im Konzernvorstand, sondern auch an den Stammtischen und auf den Straßen dieser Republik. Überall regieren die, die Meinungen machen und haben, nicht die, die klüger sind, weil sie ständig dazu lernen.

     

    Würde Frau Merkel sich gegnerischen Argumenten beugen, bevor ihre stärksten Konkurrenten bzw. eine Mehrheit ihrer Untertanen von deren Richtigkeit überzeugt ist, wäre das ein Signal an potentielle Kanzlerinnenmörder. Deswegen vermisst und befragt sie permanent nicht nur Herrn Müller und Frau Schulze, sondern auch alle, die ihrer Herrschaft gefährlich werden könnten. Sie selbst bleibt hermetisch verschlossen.

     

    Es ist das alte Beamten-Mikado: Wer sich zuerst bewegt, der hat verloren. Und wer führt, der lehrt. All jene nämlich, die selber führen wollen. Weil sie glauben, dass Macht gut ist gegen Angst. Gegen die Macken ihrer Führer rennen die Bürger mit gleichen Mitteln an. Wutbürger, Bildungsbürger, Fälscher – nutze das Gefälle! Es soll schon Zeiten gegeben haben, in denen "das Volk" sich gegen gewalttätige Herrscher nicht anders zu helfen wusste, als mit nackter Brutalität. Diese Brutalität fürchten sie, die Herrscher. In Krisenzeiten ganz besonders. Sie agieren entsprechend. Mit Ignoranz und Abwehr nämlich. Nein, es ist kein "langwieriger krisenhafter Ausnahmezustand", was wir gerade erleben. Es ist die langwierige krisenhafte Normalität. Und so lange alle an die Angst glauben, wird es wohl auch dabei bleiben.

  • MG
    markus gerat

    warum man heute nicht mehr über den bürger/wähler in die reden einbindet oder erwähnt, oder mit ihm das gespräch sucht?

    aus dem einfachen grund weil er für politik nicht mehr relelvant ist!

    eine merkel kann machen was sie will, sie wird nicht abgewählt werden. ähnlich werden wir auch das wunder der fdp im september erleben: phönix aus der asche!

    und die linken, die heute nur noch sozialdemokratische themen vertreten werden 2%-punkte verlieren, weil sie von den leitmedien, deren besitzerinnen mit merkel regelmäßig kaffee trinken, ignoriert oder verunglimpft.

    relevant ist für merkel und co, was die ackermänner dieser welt von ihr halten. das ist relevant für den fortbestand ihrer macht