Polen schafft die Disziplinarkammer ab: Der Streit geht trotzdem weiter

EU-Kommissions-Präsidentin von der Leyen soll nun fast 60 Milliarden EU-Aufbauhilfe für Polen freischalten.

Eine Frau hält die Verfassung in die Höhe bei einem Protest für die Unabhängigkeit der Justiz

Protest für die Unabhängigkeit der Justiz in Polen im Januar 2022 Foto: Beata Zawrzel/NurPhoto/imago

WARSCHAU taz | Was auf den ersten Blick wie eine Sensation aussieht – „Polen schafft die Disziplinarkammer am Obersten Gericht ab!“–, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als schlichter Etikettenaustausch. Der Sejm, das polnische Abgeordnetenhaus, entschied am Donnerstagabend mit den Stimmen der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und einiger rechter Oppositionsabgeordneten die bisherige Disziplinarkammer für Richter abzuschaffen. Allerdings soll diese durch die „Kammer für berufliche Verantwortung“ ersetzt werden. Im Prinzip wird diese die Arbeit der bisherigen Disziplinarkammer fortsetzen.

Ziel der PiS ist es, mit diesem Schritt die 58 Milliarden EU-Aufbauhilfe nach der Coronakrise loszueisen, die die Europäische Kommission (EK) vor gut einem Jahr eingefroren hat. Knapp 24 Milliarden Euro aus dem Paket sind reine Zuschüsse, gut 34 Milliarden Euro niedrig verzinste Darlehen. Polen hat Zeit, diese Gelder bis 2026 auszugeben und ordnungsgemäß abzurechnen. Da Polens PiS-Regierung sich allerdings seit einiger Zeit weigert, rechtskräftig erlassene Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) mit Sitz in Luxemburg umzusetzen, beantragte die EK beim EuGH eine Strafe von täglich einer Million Euro – bis zur Umsetzung des Urteils.

Zudem blockierte die Kommission die Auszahlung der EU-Aufbauhilfe für Polen. Grundlage dieser Maßnahme ist der sogenannte Rechtsstaatsmechanismus, der seit Anfang 2021 im mehrjährigen EU-Haushaltsbudget verankert ist. Alle EU-Mitgliedsstaaten hatten dieser neuen Klausel zugestimmt. Polen und Ungarn hatten später zwar dagegen geklagt, aber mit einem Urteil vom Februar 2022 verloren. Die Klausel, derzufolge es nur dann Gelder aus Brüssel gibt, wenn sicher ist, dass diese nach rechtsstaatlichen Prinzipien verwendet werden, bindet auch Polen.

Die von der PiS am obersten Berufungsgericht eingerichtete Richterdisziplinarkammer hat mehreren EuGH-Urteilen zufolge keinen Gerichtscharakter, ist also illegal. Alle Urteile der Kammer sind ungültig, alle degradierten oder anders abgestraften Richter sind sofort wieder an ihren vorherigen Stellen einzusetzen.

Gelder aus Brüssel müssen nach rechtsstaatlichen Prinzipien verwendet werden

Es war Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro, der sich monatelang querstellte und sogar bereit war, auf die EU-Milliarden für Polen zu verzichten, um sich nur dem „Diktat aus Brüssel“ nicht zu beugen. Da seine Partei Solidarisches Polen in der Koalition der Vereinigten Rechten der Juniorpartner der PiS ist, löste er damit eine mehrere Monate lang dauernde Regierungskrise in Polen aus.

So kamen mehrere Gesetzesvorschläge auf den Tisch, die mal mehr den EU-Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit entsprachen, mal mehr dem Beharren des Justizministers auf seine umstrittenen Justizreformen. Alle Projekte scheiterten bis auf das des Staatspräsidenten Andrzej Duda.

Über dieses – stark abgeänderte – Projekt stimmte nun der Sejm ab. Formal erfüllt es die EU-Forderung nach Abschaffung der Disziplinarkammer. Faktisch ändert sich aber nicht viel, denn die neue „Kammer der beruflichen Verantwortung“ entsteht. Nicht verändert wird zudem das „Disziplinarverfahren in seiner bisherigen Form“, wie dies die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch Mitte des Monats erneut gefordert hatte. Auch die vom EuGH als „Kern des Problems“ erkannte politisierte Richterberufung wird durch die Lex Duda nicht korrigiert.

Dennoch verkündet die PiS mit Premier Mateusz Morawiecki an der Spitze schon jetzt einen riesigen Erfolg. Am 2. Juni, soll von der Leyen nach Warschau kommen, Polens Coronawiederaufbauplan feierlich bestätigen und die EU-Milliarden endlich freischalten.

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