Plurale Ökonomik vs. Mainstream-VWL: Mit Vielfalt gegen das Chaos
Gibt es im Wirtschaftsstudium zu wenig Vorlesungen, die sich mit realen Problemen befassen? Studierende organisieren eine Sommerakademie.
In der Ausschreibung hieß es programmatisch: „Klimawandel, Eurokrise, Rechtspopulismus, Jugendarbeitslosigkeit, Vermögenskonzentration, Steuerflucht – unsere Welt versinkt im Chaos.“ Doch viele Ökonomen setzten unbeirrt auf die bekannten Themen – nämlich „Wachstum, Produktivität, Effizienz“ – und ignorierten die eigentlichen Fragen: „endliche Ressourcen, Ungleichheit, Machtstrukturen oder Visionen eines guten Lebens“.
Während an den Universitäten vor allem der neoklassische Mainstream dominiert, setzen die Studierenden bewusst auf methodische und inhaltliche Vielfalt: „Die Welt ist zu facettenreich, um nur ein Konzept, eine Sicht, einen Ansatz zuzulassen.“
90 Studierende konnten teilnehmen, aber am Ende gab es 140 Anmeldungen. „Wir waren in der unangenehmen Position, auswählen zu müssen“, sagt Gustav Theile, der in Tübingen Betriebswirtschaft, Koreanistik, Politik und Literatur studiert. „Also zählte das Motivationsschreiben“ – jedenfalls mehr als der Lebenslauf.
Die Teilnehmenden haben ganz unterschiedliche Hintergründe. Mehr als die Hälfte kommt aus Deutschland, die anderen stammen unter anderem aus Serbien, Tschechien, England, der Schweiz, Österreich, Frankreich, Polen, Schweden oder Ghana. Ein Pakistani konnte nicht kommen, weil er kein Visum erhielt.
Blinde Flecken in der heutigen Ökonomie
Die neun Workshops finden teils auf Englisch, teils auf Deutsch statt. Einige sind sehr mathematisch wie der zur „Komplexitätsökonomie“, andere ganz betriebsnah: Die Arbeitsgruppe „Pluralismus in der Praxis“ analysiert unter anderem, woran die Einführung des Elektroautos in Deutschland bisher gescheitert ist.
Star der Sommerakademie ist der australische Volkswirt Steve Keen, der weltweit einer der ganz wenigen Ökonomen war, der die Finanzkrise ab 2007 vorhergesehen hat – weil er sich anders als seine Mainstreamkollegen schon immer mit den Themen Geld, Kredit und Spekulation befasst hat. In Neudietendorf erklärt Keen den Studierenden, dass auch das Thema Energie zu den vielen blinden Flecken in der heutigen Ökonomie gehört. Denn der Mainstream kennt nur Formeln, in denen die Produktion auf Arbeit und auf Kapital beruht.
Ausschreibungstext
In der Theoriegeschichte müsse man, so Keen, bis zu den französischen Physiokraten im 18. Jahrhundert zurückgehen, um auf eine Denkschule zu stoßen, die klar benennt, dass Wachstum den Einsatz von „Natur“ benötigt, also von Rohstoffen und Energie. Die Folge: Da die heutigen Volkswirte die zentrale Rolle der Energie ignorierten, könnten sie auch zum Klimawandel nichts Substantielles sagen.
„Hier findet das Studium statt, das ich mir gewünscht hätte“, sagt Simon Walch. Über seine Zeit in Tübingen sagt er: „Dort wurde immer klar vorgegeben, was diskutiert wird – und was nicht“.
Es wird wieder diskutiert
Die meisten Teilnehmer der Sommerakademie gehören dem Netzwerk Plurale Ökonomik an, zu dem sich kritische Studierende europaweit zusammengeschlossen haben, um die einseitige Lehre an den Universitäten zu reformieren. Ihre Forderungen werden inzwischen auch von den Professoren ernst genommen.
So schrieb der Münsteraner Finanzwissenschaftler Johannes Becker kürzlich im Blog Makronom: „Dass kritisiert wird, dass der Studienplan in vielen Fällen kaum Veranstaltungen zur Finanzkrise […] zu bieten hat – absolut plausibel. Dass angeregt wird, Wissenschaftstheorie zu betreiben und sich mit Dogmengeschichte zu befassen […] – gut nachvollziehbar.“
Dann allerdings holte Becker zum polemischen Gegenschlag aus und warf den „Pluralos“ vor, „negative campaigning“ zu betreiben, das „ein wenig dem Umgang Donald Trumps mit der amerikanischen Presse“ ähnele. „Alle Anschuldigungen an die moderne akademische Ökonomik mögen sich als unwahr herausstellen, aber irgendwas wird an ihr hängen bleiben.“
In Neudietendorf haben einige Teilnehmer eine Replik erarbeitet, die demnächst veröffentlicht wird. Ein erstes Ziel haben die kritischen Studierenden aber schon jetzt erreicht: In der Volkswirtschaftslehre wird wieder diskutiert.
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