Plünderungen in Argentinien: Schon elf Tote auf der Straße
Die Plünderungen und Ausschreitungen in Argentinien überschatten auch die Feiern zum 30. Jahrstag der Rückkehr zur Demokratie.
BUENOS AIRES taz | Die Plünderungen und Ausschreitungen in Argentinien haben ein elftes Todesopfer gefordert. In der Nacht zum Mittwoch wurde in der Provinz Chaco ein mutmaßlicher Plünderer von einem Ladenbesitzer erschossen. In der Provinz Tucumán kam es ebenfalls zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei, Plünderern und teilweise bewaffneten Anwohnern.
Was vor rund einer Woche in Stadt Córdoba begann, breitete sich rasch auf fast das gesamte Land aus. Rund 1.000 Geschäfte und Supermärkte in der mehr als 1,3 Millionen Einwohner zählenden Stadt waren von der ersten Plünderungswelle betroffen. Der Schaden in Córdoba wird auf etwa zwölf Millionen Euro geschätzt.
Lediglich in drei der 23 Provinzen und im Hauptstadtbezirk blieb die Lage bisher noch ruhig. Dagegen kamen in den nördlichen Provinzen Jujuy, Chaco und Tucumán acht Menschen in Zusammenhang mit den Plünderungen ums Leben, zwei in der Provinz Entre Ríos sowie eine Person in der Provinz Buenos Aires.
Die Zahl der Verletzten geht in die Hunderte, die Zahl der betroffenen Geschäfte ist nicht bekannt. Betroffen von den Plünderungen sind von Supermärkte, Warenlager, Elektro- und Bekleidungsgeschäfte und aber auch die Tante-Emma-Läden in der Stadtviertel um die Ecke.
Keine Hungerrevolte
Das Ablaufschema ist in nahezu allen Fällen gleich. Zunächst fordern die Polizisten der jeweiligen Provinz eine drastische Lohnerhöhung, bleiben aus Protest in ihren Quartieren und rücken auch bei Notrufen nicht aus. Dann nutzt eine Mischung aus organisierten Gruppen, Gelegenheitsräuber und armen Nachbar die Gelegenheiten.
Dass dabei auch Lebensmittel mitgenommen werden, bedeutet nicht, dass es sich um Hungerrevolten handelt. Abgesehen von den organisierten Gruppen, bricht sich ganz einfach, die sich in den letzten Jahren wieder verschärfte Ungleichheit zwischen Arm und Reich Bahn.
Die seit gut acht Jahren hohe Inflationsrate, die 2013 zwischen 20 und 30 Prozent liegen wird, frisst die Kaufkraft der unteren Gesellschaftsschichten auf und wird auch nicht mehr von den staatlichen Unterstützungsprogrammen aufgefangen.
Argentinien ist auch im zwölften Jahr nach der großen Krise von Dezember 2001 ein latentes soziales Pulverfass. Und gerade vor Weihnachten wird jetzt, wie auch im vergangenen Jahr durch Plünderungen von Geschäfte eine Umverteilung eingefordert.
Die Forderungen der Polizei stoßen auf Verständnis
Dass die Polizisten eine drastische Lohnerhöhung fordern, passt denn auch in diese Panorama und wird von der Bevölkerung durchaus akzeptiert. Zu den in vielen Provinzen rasch vereinbarten Lohnerhöhungen kam es deshalb nicht nur wegen der drohenden Eskalation. Reihenweise knickten Provinzgouverneure ein, die noch tags zuvor von leeren Haushaltskassen sprachen. Die Lage hat sich deshalb vor allem dort wieder beruhigt, wo die Polizei wieder in den Straßen patrouilliert.
Dass die Erschütterungen ausgerechnet zum 30.sten Jahrestag der Rückkehr zur Demokratie durch das Land gehen, hat vor allem die Regierung verärgert. Am 10. Dezember 1983 hatte der demokratisch gewählten Präsident Raúl Alfonsín das Amt angetreten und eine acht-jährige Militärdiktatur beendet.
In ihrer Ansprache während der offiziellen Feierstunde sprach Präsidentin Cristina Kirchner am Dienstag denn auch von „geplanten und mit chirurgischer Präzision“ im Vorfeld des Jahrestages durchgeführt Aktionen. Sie glaube nicht an Zufälligkeiten.
Kritisch äußerte sie sich auch über das Verhalten der Polizei. Diese müsse sich ebenfalls in die Demokratie einfügen. „Die Waffen, die sie tragen sind zum Schutz der Bevölkerung und nicht gegen sie,“ sagte Kirchner und erinnerte damit an die Rolle der Polizei während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983.
Für die politische Opposition, die der Feierstunde wegen der Ereignisse weitgehend ferngeblieben war, ist dies jedoch alles nur ein Ablenkungsversuch von den sozialen Konsequenzen der Regierungspolitik.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland