Platzmangel bei Flüchtlingsquartieren: Auszug binnen 48 Stunden
Bis zum Jahresende sollen in Berlin 1.200 geflüchtete Menschen in schlechtere Unterkünfte umziehen. Der Flüchtlingsrat kritisiert die Umzüge scharf.
Berlinweit sind 1.200 anerkannte Asylberechtigte oder Geduldete von den Umzügen betroffen. Bis Jahresende sollen sie aus einem Wohnheim des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) umziehen – in Einrichtungen, die die Bezirke ihnen zuweisen. Das bestätigt Sozialsenatorin Elke Breitenbach der taz. Jeder Bezirk ist dazu angehalten, 100 Flüchtlinge unterbringen.
Die Bezirke sind laut Gesetz für die Unterbringung anerkannter Asylberechtigter zuständig, sie machen mehr als die Hälfte der 20.000 Menschen in den Unterkünften des LAF aus. „Wir haben diese Geflüchteten gern untergebracht, den Bezirken Amtshilfe geleistet und sie unterstützt. Aber jetzt, wo deutlich mehr neue Asylsuchende und zudem auch aktuell 300 afghanische Ortskräfte untergebracht werden müssen, beginnen wir in räumliche Not zu geraten. Da nehme ich die Bezirke in die Pflicht.“
Eigentlich wollte Berlin mit den Bezirken die Unterbringung von Asylsuchenden und Obdachlosen gesamtstädtisch steuern. Da hätten viele Bezirke nicht kooperiert, kritisiert Breitenbach. Sie hatte vor vier Jahren alle Bezirke verpflichtet, zwei Grundstücke für den Bau neuer Unterkünfte auszuweisen. „Das haben die Bezirke nicht getan, diese Plätze fehlen jetzt.“
Pingpong zwischen LAF und Bezirken
Seit dem Sommer hat das Land fünf eigentlich stillgelegte Containerdörfer mit insgesamt 1.100 Plätzen wieder in Betrieb genommen. Eines davon nur kurz in Pankow, denn auf dem Grundstück wird eine Schule gebaut. „Dafür bekomme ich Protestbriefe von Bezirksbürgermeistern. Zusammenarbeit sieht anders aus“, so Breitenbach. Geplant seien weitere Neubauten, denn die Plätze in Asylheimen werden knapp.
Der Flüchtlingsrat kritisiert die Umzüge scharf. „Es kann nicht sein, dass die Verantwortung zwischen LAF und Bezirken auf dem Rücken der Geflüchteten hin und her geschoben wird“ sagt Nora Brezger.
Die Betroffenen würden aufgefordert, binnen 48 Stunden umzuziehen und ihre vertraute Umgebung zu verlassen. Da sei es zeitlich gar nicht möglich, einen Antrag auf Übernahme der Umzugskosten zu stellen. „Der Zugang zu Mietwohnungen für Geflüchtete muss unbedingt Priorität im neuen Koalitionsvertrag haben.“
Ihr Kollege Georg Classen weist darauf hin, dass die Umzugspraxis das Gegenteil der vom Land Berlin gewollten gesamtstädtischen Steuerung der Unterbringung von Geflüchteten und Obdachlosen ist. „Angesichts schwerster Qualitätsmängel in den Unterkünften der Bezirke muss die neue Koalition die Zuständigkeit für die Unterbringung aller Wohnungslosen an das Land übertragen.“ Lichtenbergs Sozialstadtrat Kevin Hönicke (SPD) sagt der taz, er mache sich angesichts der Umzüge Sorgen „um den Bestand der Integrationserfolge der vergangenen Jahre.“
Nicht glücklich mit der Lösung
Lichtenberg hat zudem Menschen in separaten Etagen eines Seniorenheims mit einer Tagespflegeeinrichtung untergebracht. Wegen des besonderen Schutzbedarfs der Senioren vor Corona können die Flüchtlinge nur Besuch zu empfangen.
Der Bezirk appelliert deshalb an das Land, den Mehrbedarf über die Akquise neuer Unterkünfte und Wohnungsunterbringung abzufangen. Man merkt Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) an, dass sie mit der Lösung nicht glücklich ist. Aber sie sieht die Verantwortung bei den Bezirken. Die hätten in den letzten Jahren eigene Unterkünfte bauen und Geflüchtete in Wohnungen unterbringen müssen, sagt sie der taz.
Für die Betroffenen haben diese Hauruck-Umzüge zum Teil schwerwiegende Folgen: Mehrere Betroffene erzählten der taz, dass unter anderem schulpflichtige Kinder die Schule wechseln müssten. Ganz hart wird es für anerkannte Asylberechtigte, die Arbeit haben. Für sie würden sich die Mietkosten so stark erhöhen, dass sich die Arbeit finanziell nicht mehr lohnen würde. Während in den Wohnheimen des LAF der Eigenanteil an der Miete moderat ist, werden in bezirklichen Unterkünften 20 bis 30 Euro Miete pro Tag fällig.
Berlin wird darum wohl in Zukunft etliche Krankenpfleger, Busfahrer oder Bistroköche verlieren. Hinzu kommt: Die meisten bezirklichen Unterkünfte arbeiten nicht mit Sozialarbeitern. Und wer bisher in den stabileren und geräumigeren modularen Flüchtlingsunterkünften, kurz MUFs, wohnte, wo große Familien wohnungsähnlich wohnen können, muss sich jetzt in bezirklichen Unterkünften wieder Küche und Bad mit vielen anderen teilen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen