Plastikexport aus Europa in die Türkei: „Es ist billiger, Müll zu importieren“
Die Türkei importiert Plastikmüll zum Recyceln. Dabei ist das Land der zweitgrößte Kunststoffproduzent Europas. Ein Interview über Gründe und Folgen des Plastikhandels.
Seit China Anfang 2018 einen Importstopp für Kunststoffmüll aus dem Ausland verhängt hat, verschiebt sich dieser Import einem Bericht der Umweltorganisation Greenpeace zufolge nach Indonesien, Indien und in die Türkei. Die USA, Deutschland, Großbritannien und Japan gehören laut diesem Report zu den Ländern mit den höchsten Plastikmüllexporten. Die Abfallimporte der Türkei, die Anfang 2016 noch bei 4.000 Tonnen pro Monat lagen, sind Anfang 2018 auf 33.000 Tonnen pro Monat gestiegen.
Dem Türkischen Verband der Kunststoffverarbeitenden Industrie PAGEV zufolge war die Türkei 2017 der zweitgrößte Kunststoffproduzent Europas. Weltweit lag das Land an sechster Stelle. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat die Türkei im Jahr 2015 lediglich 1 Prozent ihres Abfalls recycelt.
Wir haben mit dem Sedat Gündoǧdu, der in der Abteilung für Wasserwirtschaft an der Universität Çukurova zu Mikroplastik forscht, über den Kunststoffimport der Türkei und die möglichen Folgen gesprochen.
taz.gazete: Herr Gündoǧdu, warum importiert die Türkei Kunststoff, wenn sie doch der zweitgrößte Kunststoffproduzent Europas ist?
Sedat Gündoǧdu: Der Handel mit Plastikmüll ist ein weltweit stark verbreitetes Handelsgeschäft. Die Handelsroute führt meist von West nach Ost. Plastikmüll ist nämlich eine Ware, die in anderen Ländern billiger recycelt werden kann. Deshalb schicken die westlichen Länder ihren Müll lieber in Schwellenländer, in denen die Umweltgesetze noch nicht so streng geregelt sind, anstatt sich um die Wiederaufbereitung ihres Abfalls zu bemühen. Hauptbetreiber dieses Handels war seit den 1990er Jahren insbesondere China, später stiegen auch andere Länder wie Malaysia, Indonesien, die Philippinen, Indien und die Türkei in dieses Geschäft ein. Die Türkei hat eigentlich erst Anfang 2018 so richtig mit dem Importieren von Müll angefangen. Sie kauft vor allem Plastikabfall aus Großbritannien. Für die Türkei ist es billiger, diesen Müll zu importieren und zu recyceln, als den eigenen Müll zu recyceln. Der Abfall der Türkei eignet sich nämlich nicht wirklich zur Wiederverwertung.
Woran liegt das?
Die Türkei hat keine wirksame Strategie in Bezug auf ihr Abfallmanagement. Den Kommunalverwaltungen muss man in diesem Punkt ein ganz schlechtes Zeugnis ausstellen. Abfall ist schmutzig, damit er überhaupt recycelt werden kann, muss der Müll getrennt und gereinigt werden. Das sind teure Verfahren. Weil die Unternehmen sich damit nicht herumschlagen wollen, kaufen sie lieber den billigen, vorsortierten Müll aus dem Ausland. Den gekauften Plastikmüll recyceln sie, vermischen ihn mit Rohplastik und fügen ihn wieder dem Kunststoffproduktionsprozess hinzu. So heißt es zumindest offiziell. Was wirklich passiert, erfahren wir aufgrund des Produktionsgeheimnisses nicht. In der Türkei wird dieses Geschäft unter Kontrolle der exportierenden Staaten von Privatfirmen durchgeführt.
Warum sammelt die Türkei nicht ihren eigenen Plastikabfall?
In der Türkei gibt es keine Mülltrennung. Alles kommt in eine Tonne und der Anteil der Wertstofftrennung ist entsprechend niedrig. Solange die Menschen keine getrennten Sammelbehälter für ihren Haushaltsmüll vorfinden, können sie nicht zur Mülltrennung motiviert werden. Die Infrastruktur des Abfallmanagements ist ziemlich schlecht und was die Großstädte in Sachen Mülltrennung tun, ist unzureichend. Das Sammeln von Wertstoffen übernehmen deshalb private Müllsammler. Dieser sogenannte Papiersammler-Sektor, in dem insbesondere Geflüchtete arbeiten, wächst täglich. Tausende von Menschen verdienen so ihren Lebensunterhalt. Eigentlich wäre es die Aufgabe der Kommunalverwaltungen, sich darum zu kümmern. Da diese aber mehr damit beschäftigt sind, Gehwege und Straßen zu bauen, verwandeln sich öffentliche Dienstleistungen wie diese unkontrolliert in einen eigenen Sektor.
Und was passiert mit dem Plastikmüll, der gesammelt werden kann?
Darüber gibt es keine Daten. Alles was wir darüber wissen, erfahren wir über die Presseerklärungen verschiedener privater Unternehmen. Das Statistikinstitut der Türkei (TÜİK) hat hierzu zuletzt 2016 Daten veröffentlicht. Demnach wurde nur ein Prozent des gesamten Mülls in der Türkei recycelt. Der Rest wurde vergraben, verbrannt oder deponiert.
Verhindert der steigende Kunststoffimport der Türkei das Plastiksammeln innerhalb des Landes?
Solange die Recyclingfirmen denken, dass sie mit dem importierten Plastikmüll mehr Gewinn erzielen können, werden sie wahrscheinlich darauf verzichten, den schmutzigen Abfall aus dem eigenen Land zu verwenden. Es handelt sich hier um eine rein wirtschaftliche Überlegung. Die Recyclingunternehmen machen diesen Job nicht aus Wohltätigkeit oder der Umwelt zuliebe. Solange sie damit mehr Geld verdienen können, werden sie dazu tendieren, den Plastikmüll aus dem Ausland zu kaufen. Aus diesem Grund hat China aufgehört Müll zu importieren: Die Verantwortlichen waren nicht mehr in der Lage, den eigenen Müll zu verwalten. China ist das Land mit der höchsten Umweltverschmutzung der Welt und die schmutzigsten Strände des Mittelmeers liegen in der Türkei.
Welche Schwierigkeiten kann das Plastikproblem der Türkei in Zukunft bereiten?
Die Türkei hat 2018 rund zehn Millionen Tonnen Kunststoff produziert. Fast drei Millionen davon sind Verpackung. Die Kunststoffproduzenten investieren ständig, um diese Menge zu steigern, aber sie übernehmen überhaupt keine Verantwortung dafür, was mit den Kunststoffprodukten nach ihrer Verwendung geschieht. Noch dazu kaufen sie Plastikmüll aus anderen Ländern und schütten einen Teil davon wieder auf dem Binnenmarkt aus. Hier zeigt sich ein wirklich erschreckendes Bild: Weil der Müll nicht getrennt gesammelt und recycelt wird, kommt es zu einem ernsthaften Umweltproblem, denn der Müll fließt letztendlich mit den Niederschlägen in die Meere. Nach einer durch starken Regen verursachten Überschwemmung in Istanbul im vergangenen Herbst hat das Flutwasser tonnenweise Plastikmüll ins Marmarameer gespült. Der ganze Müll, der nicht gesammelt, sondern vergraben deponiert wird, landet letztendlich im Meer. Wenn die Produktion und der Konsum von Kunststoff weiter derart rasant ansteigen, werden wir uns mit einer ernsthaften Umweltverschmutzung durch Plastik auseinandersetzen müssen.
Funktioniert das Abfallsystem in Europa anders?
Ich glaube, an dieser Stelle trügt der Eindruck. Deutschland gehört zum Beispiel in Europa zu den fünf Ländern, die ihren Abfall am besten recyceln. Bei näherem Hinschauen stellt sich aber heraus, dass dies nur eine Täuschung ist, denn Deutschland verkauft den Plastikmüll, den es zum Recyceln gesammelt hat, nach Malaysia. So können sich die deutschen Bürger*innen als Umweltschützer fühlen, weil sie ihren Plastikabfall in gelben Tonnen oder Säcken entsorgen und Deutschland darf sich rühmen, eines der umweltfreundlichsten Länder der Welt zu sein. Wenn die Umwelt in Deutschland heute sauber aussieht, dann nur, weil andere Länder wie Malaysia den Müll aufkaufen. Das gleiche gilt für Großbritannien: Die Umweltfreundlichkeit des Lands beruht auf seinen Abfallexporten in die Türkei. Allein 2018 hat die Türkei Großbritannien 80.000 Tonnen Plastikmüll abgekauft. In der Zwischenzeit hat Großbritannien 89.000 Tonnen ihres Plastikabfalls selbst recycelt.
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
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