Pläne für vernetzten Bezirk in Kanada: Aus für Googles Stadtteil
In der kanadischen Metropole Toronto sollte ein von Google total vernetzter Bezirk entstehen – bis klar wurde, was das für Einwohner:innen bedeutet.
Ampeln passen sich dem Verkehrsfluss an, regenschirmartige Stoffe breiten sich bei Niederschlägen über den Gebäuden und Freiflächen aus, Roboter sammeln Müll ein, bei Schnee erwärmen sich die Bürgersteige und alle sind verbunden über das kostenlose WLAN – die Vision war groß für den Torontoer Distrikt Quayside, östlich von Downtown. Das erste, von Grund auf „smarte“ zusammenhängende Stadtviertel der Welt sollte hier entstehen.
Sidewalk Labs, ein Alphabet-Konzern und Google-Schwesterunternehmen aus New York, das sich ganz der technologisch aufgerüsteten Stadtentwicklung verschrieben hat, bekam im Oktober 2017 den Zuschlag, hier ein neues Viertel hochzuziehen. Der Masterplan, über 1.000 Seiten stark, lockte mit 93.000 Jobs, die im Zuge der Entwicklung entstehen sollten, 4,3 Milliarden kanadische Dollar sollten die Geschäftsumsätze dem kanadischen Fiskus jährlich in die Kassen spülen, 980 Millionen kanadische Dollar wollte Sidewalk Labs hier investieren. Der neue Distrikt wäre zu einem pulsierenden Tech-Zentrum geworden und zum neuen Hauptsitz für Google Kanada. Bis zu 5.000 Menschen würden hier Platz zum Wohnen finden.
Die zweitteuerste Stadt Kanadas hätte das auch bitter nötig gehabt: Keine Metropole in Nordamerika wächst schneller als Toronto. Die Stadt zieht wegen ihrer hohen Lebensqualität und der vielen Jobs Menschen aus aller Welt an. Bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware. Um die 2.000 CAD zahlt man hier für eine Ein- bis Zweizimmerwohnung. Einfamilienhäuser rangieren im Durchschnitt bei rund 900.000 CAD. Auswärtiges Kapital und Investitionen treiben die Immobilienpreise immer weiter nach oben.
In den 1990er Jahren gab es eine Phase, in der kaum neue Wohnungen gebaut wurden – der Immobilienmarkt war schwach, Investitionen lohnten sich für Immobilienentwickler nicht. Baugrund in guten Lagen ist heute begehrt und teuer, wenn gebaut wird, dann zumeist im hochpreisigen Segment. Für die Einheimischen ist es längst zu teuer.
Auf den Kopf gestellt
Sidewalk Labs wollte eine Alternative anbieten, neuen Wohnraum teilweise unter den gängigen Marktpreisen anbieten. Ein ambitionierter Plan für das wohl derzeit exklusivste Stück Land Kanadas. Doch dazu wird es nicht mehr kommen. Im Mai dieses Jahres zog CEO Dan Doctoroff dem Quayside-Projekt den Stecker. Offiziell heißt es, die wirtschaftliche Instabilität habe es unmöglich gemacht, die 3,2 Quadratkilometer Land zu entwickeln. 50 Millionen Dollar waren da schon investiert.
„Der demokratische Prozess, wie hier Politik gemacht wird, wurde komplett auf den Kopf gestellt“
Kritiker*innen wie Bianca Wylie vom Center for International Governance Innovation in Waterloo und Ben Green, Research Fellow am AI Now Institute in New York glauben, das Projekt war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Seitdem öffentlich wurde, dass die Sidewalk Labs aus New York den Zuschlag bekommen hatten, wehrten sich Torontoer Bürger*innen. Bianca Wylie schreibt seit 2017 gegen diese De-facto-Privatisierung der Stadtentwicklung an. 2019 gründete sie die Initiative BlockSidewalk, nachdem klar wurde, dass Sidewalk Labs viel mehr Land entwickeln wollen würde als ursprünglich angekündigt.
„Die Stadt Toronto und die kanadische Regierung hat einige ihrer Funktionen an Sidewalk Labs ausgelagert. Vertreter*innen des Unternehmens hielten öffentliche Konsultationen ab“, sagt Wylie, „der demokratische Prozess, wie hier Politik für die Stadt gemacht werden sollte, wurde komplett auf den Kopf gestellt.“
Daten sammeln überall
Sidewalk Labs’ Geschäftsmodell sah unter anderem vor, Daten zu sammeln und sie an Werbekunden zu verkaufen. Die Bedenken über die Datensicherheit wurden schnell so groß, dass die Canadian Civil Liberties Association eine Klage gegen das Unternehmen vorbereitete. Ben Green bewertete als Experte die Datensicherheit in einer eidesstattlichen Erklärung. Darin zog er den Vergleich zu einem anderen Projekt von Sidewalk Labs vor deren eigener Haustür: LinkNYC.
Dort sollten New Yorker Münztelefone ab 2015 Schritt für Schritt durch WLAN-Säulen ersetzt werden, mit freiem Zugang für alle Bürger*innen. Ein Versprechen des Konsortiums um Sidewalk Labs war es auch, damit den digitalen Graben in der Stadt zu überbrücken: Laut Green haben ungefähr 20 Prozent der New Yorker*innen keinen Breitbandanschluss, einen mobilen Datenplan kann sich nicht jeder leisten. Von den angedachten 7.500 Säulen stehen heute allerdings nur knapp 1.700. Am dichtesten stehen sie in Manhattan gedrängt, einer der einkommensstärksten Gegenden.
Link-NYC-Säulen zeichnen die Ortsdaten aller Passant*innen auf, die sich in ihrer Nähe bewegen, selbst wenn sie nicht ins Netz eingeloggt sind. Diese allgegenwärtige Konnektivität sollte auch im neuen Torontoer Viertel angeboten werden. Auch wenn Sidewalk Labs darauf beharrt, hier anonymisierte Daten zu verwenden, weiß Green: „Die Unkenntlichmachung von Daten ist ein Mythos, da sind sich Computerwissenschaftler*innen und Anwält*innen seit gut einem Jahrzehnt einig.“ In Verbindung mit anderen Daten ließe sich sehr wohl auf die Identität nichtsahnender Passant*innen schließen. In seiner eidesstattlichen Bewertung kam Green zu dem Schluss, dass Sidewalk Labs die Anonymisierung gesammelter Daten nicht hinreichend gewährleisten könne.
Die grenzenlose Macht der Tech-Konzerne
Bedenken zur Datensicherheit sind ein guter Hebel, um gegen solche Pläne vorzugehen. Bianca Wylie weiß aber auch, dass ganz besonders auf die „systemischen Verschiebungen geschaut werden muss, die von Tech-Unternehmen ausgehen.“ Wenn Technologieunternehmen einfach politische, öffentliche Aufgaben übernehmen, dann müssen die Bürger*innen genau hinschauen „und auf der Matte stehen“, wie Wylie sagt, „selbst wenn sie glauben, wenig von neuen Technologien zu verstehen“.
Das Toronto-Projekt und LinkNYC illustrieren, inwiefern Unternehmen wie Sidewalk Labs genau dort ansetzen: Sie wollen im Grunde Aufgaben übernehmen, die eigentlich in der öffentlichen Hand liegen.
Städte müssen jedoch der Versuchung widerstehen, mit ein paar Apps und Algorithmen Prozesse um der Effizienz willen zu vereinfachen. Das Beispiel Toronto zeigt, wie wichtig es ist, dass Städte eine gute digitale Souveränität haben, sie dürfen sich keine vermeintlich einfachen Lösungen für eigentlich politische und soziale Probleme aufschwatzen lassen. Bianca Wylie sagt: „Wir müssen klarere Vorstellungen entwickeln, was wir eigentlich von öffentlichen Technologien erwarten, anstatt es Tech-Firmen zu ermöglichen, dass sie sich bei Regierungen und Verwaltungen Märkte erschließen, ihnen Technologien verkaufen, ohne selbst in der Verantwortung zu stehen.“
Auch wenn die Datenschutzrichtlinien in Europa schärfer sind als in Nordamerika und die Skepsis gegenüber Tech-Monopolen traditionell größer – Beispiele wie Sidewalk Labs in Toronto können als Fallstudien dafür dienen, wie digitale Agenden und neue Infrastrukturen nicht gemacht werden sollten.
Unternehmen wie Alphabet können nicht bis in alle Ewigkeit nur im Internet ihr Geld verdienen. Sidewalk Labs hat gezeigt, wie das Ausgreifen eines Tech-Giganten in die physische Welt aussehen kann, wenn es im Netz eng wird. Ende Juli mussten die vier CEOs von Amazon, Google, Apple und Facebook zur Anhörung im US-Kongress antreten. Auch hier hat man mittlerweile erkannt, dass diese Unternehmen zu groß geworden sind. Wenn sie jetzt Städte bauen, bezahlbaren Wohnraum schaffen, Müll entsorgen und den Verkehr regeln, dann werden sie irgendwann unentbehrlich.
Leser*innenkommentare
J_CGN
Die Anonymisierung funktioniert nicht richtig. Pseudonymisierung ist noch schlechter.
Dennoch haben Spahn und Co. die Gesundheitsdsten (!!!) aller GKV Versicherten zum Zugriff durch Forschung und Unternehmen freigegeben.
Naja Spahn und Co. sowie ihre Beamten sind ja in der PKV.
Karl Kraus
Alles Neuland...
hessebub
Wer William Gibson gelesen hat ist nicht überrascht.
Deep South
Die Vorstellunge einer umfassenden Zusammenarbeit von Regierungsbehörden und privaten Datensammelkraken wie Google ist generell gruselig. Nirgendwo im Netz sind User Daten völlig anonym und sicher, Datenhandel und -diebstahl sind das Geschäft schlecht hin. So blind kann man gar nicht sein, um zu glauben, dass das für solche Projekte keine Rolle spielen würde. Von den Möglichkeiten der politischen Manipulation mal ganz zu schweigen.
tomás zerolo
Danke.
So etwas macht Hoffnung -- zeigt aber auch welch dicke Bretter zu bohren sind, und wie genau mensch hinschauen mus um zu verstehen, welche Bedrohungen diese "Tech"-Konzerne mit sich bringen.
Vordergründig wird immer Datenschutz genannt, und das ist sicher ein Aspekt; schwieriger zu verstehen und subtiler, aber m.E. weitaus gefährlicher ist, dass sie sich immer mehr zwischen unseren sozialen Interaktionen, ja wohl demnächst zwischen uns und "die Welt da draussen", quasi als Wahrnehmungsfilter schieben.
Nun ist das alles nicht ganz neu -- Medien haben das immer schon gemacht, aber die Gründlichkeit und Punktgenauigkeit, mit der das geschieht, hat ein enormes Veränderungspotenzial. Überlassen wir die Entscheidungen darüber, wo es langgeht, einigen Risikokapitalisten? Sind Politiker*innen so dumm, dass sie das Management sozialen Friedens und -zusammenhalts solchen windigen Unternehmen auch noch freiwillig überlassen wollen?
Zitat aus dem Artikel: "Der Masterplan [...] lockte mit 93.000 Jobs [...] 4,3 Milliarden kanadische Dollar sollten [...] dem kanadischen Fiskus jährlich in die Kassen spülen, 980 Millionen kanadische Dollar wollte Sidewalk Labs hier investieren [...] pulsierenden Tech-Zentrum [...] Bis zu 5.000 Menschen würden hier Platz zum Wohnen finden"
Merkt man eigentlich, dass Alphabet/Google im wesentlichen eine Werbefirma ist?
970 (Profil gelöscht)
Gast
"Wenn sie jetzt Städte bauen, bezahlbaren Wohnraum schaffen, Müll entsorgen und den Verkehr regeln, dann werden sie irgendwann unentbehrlich."
Seien wir ehrlich:
Allein im Netz übernehmen diese Unternehmen bereits Funktionen, die eigentlich öffentliches Gut sein sollten.
Kommunikation über WhatsApp.
Suchanfragen über Google.
Man kommt nicht umher, Facebook und Alphabet mit Daten zu versorgen.
tomás zerolo
@970 (Profil gelöscht) Andere Suchmaschine benutzen. Andere Menschen davon überzeugen, dass das geht. Fakebook & Co. meiden, auch wenn die "Familie" darauf besteht.
Es gibt so viel, was jede*r Einzelne tun kann.
Einfach vom Ohrensessel aus "man kommt nicht umher" zu jammern genügt nicht.
danny schneider
"Ampeln passen sich dem Verkehrsfluss an, regenschirmartige Stoffe breiten sich bei Niederschlägen über den Gebäuden und Freiflächen aus, Roboter sammeln Müll ein, bei Schnee erwärmen sich die Bürgersteige und alle sind verbunden über das kostenlose WLAN"
Für nichts davon benötigt man Google, für nichts davon benötigt man eine aktive Internetverbindung - außer fürs WLAN, klar - ein lokales abgeschottetes Netzwerk genügt vollkommen.