Piratenpartei im Hessen-Wahlkampf: Gegen den Datenschatten
Cooles Image, verkopftes Programm: Die Piratenpartei tritt am 18. Januar zur Hessenwahl an. Ziel ist es, mit einem netzaffinen Programm die 1-Prozent-Hürde zu knacken.
Die Partei
Die Piratenpartei Hessen tritt am 18. Januar als eine von zehn Kleinparteien zur Landtagswahl an. Von den 140 Mitgliedern arbeiten die meisten im IT-Bereich, der Mitgliedsbeitrag beträgt 36 Euro pro Jahr. 2008 waren die Hessen-Piraten erstmals in Deutschland angetreten, sie holten 6.962 Stimmen, das sind 0,3 Prozent.
Das Programm
Die Piraten haben zwei Hauptanliegen: Schutz der Privatsphäre und freier Zugang zu Wissen. Sie lehnen Lauschangriffe, Vorratsdatenspeicherung und Rasterfahndung ab, jeder Bürger soll über seine Daten selbst bestimmen dürfen. Zudem wollen sie das Urheberrecht reformieren, sie lehnen "geistiges Eigentum" ab. Alle Werke sollen beliebig verbreitet werden können, außer sie werden kommerziell genutzt.
Die Zukunft
Die Piratenpartei will 2009 zur Europa- und zur Bundestagswahl antreten, wie auch zur Landtagswahl in Brandenburg. Derzeit hat sie 800 Mitglieder.
piratenpartei.de
piratenpartei-hessen.de
Eine Fahrkarte am Automaten kaufen, Bahncard-Punkte sammeln, die Handy-Prepaid-Karte aufladen, sechsmal hin und her telefonieren, Zeitungen mit der EC-Karte bezahlen - bevor man den Treffpunkt mit dem Chef der Piratenpartei erreicht, hat man schon eine schöne breite Datenspur hinterlassen. Eine Schneise, quer durch die Bundesrepublik bis zum Frankfurter Hauptbahnhof, bestehend aus PINs, Handy- und Festnetznummern sowie Bildern in Überwachungskameras. Datensätze, die irgendwer irgendwo speichert, spätere Verwendung möglich.
Thorsten Wirth, dunkler Pullover, Jeans, wacher Blick, findet das "unverschämt. Es gehört sich einfach nicht, dass mein Staat mir hinterherspioniert". Der Landesvorsitzende der Piratenpartei hofft, dass das auch viele andere Hessinnen und Hessen so sehen und seiner Partei am 18. Januar ihre Stimme geben. Vor einem Jahr taten das exakt 6.962 von ihnen, 0,3 Prozent. "Diesmal", sagt der Vierzigjährige, "wollen wir die 1-Prozent-Marke knacken."
Die Piratenpartei Hessen hat sich mächtig ins Zeug gelegt dafür, dass sie überhaupt zur Landtagswahl antreten darf. Die Frist, bis zu der sie dem Landeswahlleiter 1.000 Unterstützerunterschriften vorlegen mussten, war verdammt kurz. Nachdem Anfang November SPD und Grüne damit gescheitert waren, den ewigen Roland Koch abzulösen, löste sich der Landtag auf.
Den kleinen Parteien blieben nicht einmal vier Wochen, um die Unterschriften zu sammeln. Aber die Piraten sind gut vernetzt, und sie haben es geschafft: 1.144 Unterschriften konnten sie vorweisen. Jetzt rangeln sie mit anderen Kleinparteien, etwa den Tierschützern und den Senioren, um die Stimmen der Verdrossenen, der Ein-Thema-Wähler, der Spaßversteher.
Tatsächlich könnte man auf die Idee kommen, eine Partei, die mit dem coolen Piratenimage und dem Slogan "Klarmachen zum Ändern" antritt, sei eine Spaßpartei. Sie stünde damit in einer schönen subversiven Tradition, etwa mit der Anarchistischen Pogo-Partei, der Deutschen Sex-Liga oder der Biertrinker-Partei. Aber schaut man beim Stammtisch der Piraten vorbei, ist es nicht weit her mit dem Spaß. Den neun Männern und der einen Frau, die sich an diesem Abend in der Frankfurter Innenstadt treffen, ist es ernst mit ihrem Anliegen. Im legendären Club Voltaire sitzen sie um den langen Holztisch, vor sich heißen Apfelwein mit Nelken und Zimt, 1,50 Euro das Glas, und reden.
"Wir sind keine Spaßpartei", stellt Nicole Hornung, Jeansjacke, Rollkragenpullover, grauer Zopf, gleich zu Anfang klar. Die 52 Jahre alte Informatikerin ist die Spitzenkandidatin zur Landtagswahl. Schon im letzten Jahr hatte sie gegen den Einsatz von Wahlcomputern geklagt, weil die leicht zu manipulieren seien. Diesmal hat der Landeswahlleiter verfügt, dass die Stimmen am Wahlabend wieder von Hand ausgezählt werden - ein Erfolg für die Piraten. "In unseren Verwaltungen ist es nicht weit her mit der Datensicherheit", sagt Hornung und schaut streng über ihre Lesebrille. Sie ist die fünfzig Kilometer von ihrem Wohnort hierher in die Seitenstraße der Frankfurter Fressgasse gekommen, weil es eine Menge zu organisieren gibt. Es ist schließlich Wahlkampf.
"Kannst du noch mal kleistern?", fragt der Parteichef Christoph Erle. Der, Kapuzenpulli, Backenbart, freundliche Augen, übernimmt die Tour in Gießen, "50 Stück, kein Problem". Der 25-jährige Sozialwissenschaftsstudent ist in dieser Runde eher die Ausnahme, denn er ist jung und kein Informatiker. Aber er findet die Piraten-Programmatik gut und hofft - bescheidener als Wirth - darauf, "dass wir am 18. Januar unsere Stimmenzahl verdoppeln".
Warum sollen die Hessinnen und Hessen den Piraten ihre Stimme geben? Kurz gesagt geht es ihnen um informationelle Selbstbestimmung, also den Schutz der Privatsphäre. Außerdem fordern sie die Reform des Patent- und des Urheberrechts, also den "freien Zugang zu Wissen". Ein sperriges Technikthema, das zu verstehen viele Bürger längst aufgegeben haben. Die großen Parteien kämpfen an ganz anderen Fronten. Laut den Wahlumfragen gehts in Hessen um Themen wie Bildung und Rezession, den Frankfurter Flughafenausbau, die soziale Ungerechtigkeit. Von informationeller Selbstbestimmung ist eher weniger die Rede, und dass die Piraten die Freigabe von Killerspielen fordern, wird Eltern möglicherweise eher nicht dazu verleiten, ihr Kreuzchen bei ihnen zu machen.
Die Piraten wissen das natürlich. Für sie, die sich selbst als Nerds, als Sonderlinge mit meist überdurchschnittlichem IQ, bezeichnen, ist es ein riesiges Problem, ihr Programm allgemein verständlich zu kommunizieren. Die Welt um sie herum ist schließlich voller DAUs, voller Dümmster Anzunehmender User, die sich überhaupt nicht im Klaren darüber sind, welche Bedrohung zum Beispiel das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung für sie persönlich darstellt. Sie, die IT-Fachleute, haben durch ihre Jobs längst begriffen, wie verletzlich die Privatsphäre jedes Bürgers inzwischen ist, wie leicht jeder einigermaßen versierte Techniker auf persönliche Daten zugreifen kann und - vor allem - was er damit anstellen kann. Aber wie verklickert man das Leuten, die nicht einmal den Unterschied zwischen Server und Host kennen?
Abschrecken lassen sich die Piraten von so viel Ignoranz aber nicht. "Was die Leute für ein Bild von uns im Kopf haben, diese Stigmatisierung", sagt Oberpirat Wirth, "da kann man drüber lächeln. Uns wird immer unterstellt, wir wollten das Internet abschaffen. Das ist doch totaler Quatsch." Sie werben für einen neuen Ethos, eine bessere Kultur der User untereinander, in Hessen, Deutschland, global. Und weil einer Partei einfach mehr Leute zuhören als einer Bürgerrechtsinitiative, bieten sie ihre Inhalte halt als Piratenpartei an. "Wir wollen auch den anderen Politikern Angst machen", sagt Thorsten Wirth, davor, dass sie Stimmen verlieren. "Unsere 7.000 Stimmen bei der letzten Wahl sind genau die, die Ypsilanti gebraucht hätte, um vor der CDU zu liegen", sagt er selbstbewusst.
Es ist jetzt voll und laut im Club Voltaire. Vorn an der Theke stehen graubärtige Männer und diskutieren, an den kleinen Tischen sitzen jüngere Gäste, und am Stammtisch tagt die Piratenpartei. Gerade entspinnt sich ein Schlagabtausch zwischen einem Softwareentwickler und einem Consultant über Filesharing. "Kein Tech-Talk!", ruft Parteichef Wirth mahnend in die Runde, es sind auch zwei potenzielle Wähler gekommen, die will man nicht abschrecken.
An anderen Tagen treffen sich im Club Voltaire die trotzkistische Linke von Marx.21, die Linke SchülerInnen Aktion oder die Marxistische Abendschule Frankfurt. Die Kneipe in der Kleinen Hochstraße 5 gibt es seit den frühen Sechzigerjahren. Sie entspricht jedem Klischee von linker Bewegungsgeschichte. Von der Wand schauen Marx, Lenin und Luxemburg, die aktuelle Fotoausstellung zeigt revolutionäre Massen in Südkorea, die Speisekarte (Handkäs mit Musik: 2,30 Euro) ziert ein Voltaire-Zitat: "Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung. Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion." Ein trefflicher Satz, den die informationellen Bedenkenträger von der Piratenpartei mit Sicherheit unterschreiben würden.
Oberpirat Thorsten Wirth mag den Club Voltaire, ganz bewusst hat er den Stammtisch hier anberaumt. "Obrigkeit ist nicht gottgegeben", sagt er. "Eigentlich bin ich ein ganz ruhiger Typ. Aber ich will mir die Freiheit nehmen, nein zu sagen. Ich will mich entscheiden können, jeder soll sich entscheiden können. Ich will nicht, dass ein Politiker für mich denkt."
Sympathisch und romantisch klingt das. Und überraschend. Denn der das sagt, ist ja selbst längst Politiker. Oder?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“