Pipeline-Proteste in den USA: Jäger der schwarzen Schlange
Monatelang protestierten Tausende amerikanische Ureinwohner gegen eine neue Pipeline. Obama stoppte den Bau. Dann gewann Trump.
„Black Snake Killer“, ruft der 18-jährige Bahee aus voller Kehle in den Himmel über der Hauptstadt. Andere fallen ein und wiederholen den Ruf. Die schwarze Schlange ist eine Pipeline, die unter dem Missouri und quer durch den Mittleren Westen führt, sie wird gerade fertiggestellt. Schon in wenigen Tagen könnte Öl durch sie hindurchfließen. Die schwarze Schlange steht zugleich für das Elend, in dem viele Ureinwohner Nordamerikas leben.
Im vergangenen Jahr hat die schwarze Schlange Ureinwohner aus dem ganzen Land in der Prärie zusammengeführt. Sie bauten Protestcamps aus Tipis und Jurten, beteten, drängten die Stammesälteren dazu, der US-Regierung die Stirn zu zeigen, und trotzten der Polizei. Sie wollten so den Bau der Dakota Access Pipeline verhindern.
Die eigene Sprache fehlt
Manche Campbewohner haben dafür ihr altes Leben hinter sich gelassen, andere pendeln zwischen Arbeitsleben und Protest. Sie treffen dort auf Angehörige anderer Stämme, zum Teil jahrhundertelang verfeindet, auf Jugendliche, die sich vorher nur vage als Native Americans verstanden hatten. Bahee, dessen Stimme jetzt, an einem Freitag im März, durch die Straßen Washingtons hallt, ist einer der Letzteren.
Ezekiel Bahee ist 18 Jahre alt, die langen schwarzen Haare trägt er zum Zopf gebunden. Er lebt in Flagstaff, Arizona, einer mittelgroßen Stadt im Südwesten der USA. Bahee wusste immer, dass er ein Navaho ist, die anderen Kinder auch, sie hänselten ihn damit, nannten ihn Skalpierer. Doch von der Kultur seiner Vorfahren hatte er keine Ahnung. Seine Großmutter war früh gestorben, sein Vater im Gefängnis und seine Mutter damit beschäftigt, ihre sieben Söhne und drei Töchter großzuziehen.
Erst im Protestcamp nahm Bahee zum ersten Mal an rituellen Reinigungen teil, saß in Schwitzhütten, lernte, Tipis in Rekordzeit aufzubauen. Und die ersten Worte der Navaho-Sprache Diné. „Yah’ah Tah“, Hallo, sagt er nun, wenn er andere Ureinwohner trifft. „Das schafft eine ganz andere Verbindung“, sagt er.
Es schneit, hagelt und regnet, während mehrere tausend meist junge Native Americans zum Weißen Haus ziehen. Präsident Trump hat direkt nach seinem Amtsantritt angeordnet, dass sowohl die Pipeline in North Dakota als auch andere so schnell wie möglich gebaut werden. Sein Vorgänger Barack Obama hatte am Ende seiner Amtszeit noch auf die Proteste reagiert, den Bau gestoppt und eine erneute Umweltverträglichkeitsprüfung verlangt. Die ist nun gestrichen.
Die Ureinwohner wollen das nicht akzeptieren. Sie argumentieren, dass jede Pipeline früher oder später Lecks hat und in so einem Fall in North Dakota das Öl in den Missouri fließen könnte – aus ihm bezieht das unmittelbar südlich angrenzende Standing-Rock-Reservat sein Trinkwasser. Die Protestierenden sind aber auch wütend, weil Washington ihre Interessen wieder einmal ignoriert. Es geht um gebrochene Pipelines, um gebrochene Verträge und um gebrochenes Vertrauen.
Die Alten haben das Sagen
Die meist jungen Demonstranten tragen ein euphorisches „Wir“ in die Hauptstadt, ein kollektives Selbstbewusstsein, das so neu ist wie ihre Bewegung. „Wir existieren, wir leisten Widerstand und wir werden stärker“, steht auf dem großen Transparent, das junge Mädchen in langen bunten Röcken in der ersten Reihe der Demonstration tragen.
Eine von ihnen ist Alice. Sie ist 13 Jahre alt, Schülerin, sie lebt im Reservat Standing Rock. Sie war eine von 30 Läufern, die gemeinsam 3.200 Kilometer bis in die Hauptstadt rannten. Unterwegs machten sie in jedem Reservat Halt, diskutierten mit anderen Jugendlichen und Stammesräten. Die Läufer nannten sich Wasserschützer und machten einen Satz aus der Lakota-Sprache bekannt: „Mní Wičhóni“ – Wasser ist Leben. Er wird zum Slogan der Bewegung.
Die Jugendlichen laufen durch die USA, und plötzlich erscheint es ihnen, als wäre es möglich, die Dakota Access Pipeline zu verhindern. Ein Dreivierteljahr später steht die 13-jährige Alice auf dem Lafayette Square vor dem Weißen Haus. Sie spricht zu Tausenden Menschen über Respekt, Liebe und Sicherheit: „Deswegen sind wir gegen die Pipeline.“
Dass junge Leute bei den Sioux für ihren Stamm sprechen, ist neu. Traditionell haben die Alten das Sagen. Die Jungen schweigen. Auch das hat die schwarze Schlange geändert.
Im Frühjahr vergangenen Jahres, es sah aus, als stünde die Dakota Access Pipeline, die das Öl aus den Fracking-Bohrungen in North Dakota zu den Industrien im 1.800 Kilometer entfernten Illinois bringen soll, kurz vor der Vollendung, veröffentlichten Bewohner des Standing- Rock-Reservats einen Hilferuf auf Facebook. Sie befürchteten, dass ihre Stammesvertreter den Widerstand gegen die Pipeline, die niemand in dem Reservat wollte, aufgegeben hatten.
Washington? Die ignorieren uns doch!
Der 20-jährige Joseph White Eyes aus dem Cheyenne-River-Reservat im Nachbarbundesstaat South Dakota las den Aufruf und bot seine Hilfe an. Er ist ein erfahrener Organizer.
White Eyes hatte in seinem Reservat Jugendgruppen zur Selbstmord- und Drogenprävention gegründet – zwei Übel, die in zahlreichen Reservaten grassieren. Er hatte Jugendliche in Gebetslager geholt, wo sie in Kontakt mit ihren eigenen Wurzeln kommen konnten. Auch bei jahrelangen Protesten gegen eine andere Pipeline, Keystone-XL, war er dabei. Barack Obama hatte sie schließlich kurz vor dem Pariser Klimagipfel, im Winter 2015, gestrichen. Auch diese Pipeline will Trump nun doch bauen lassen.
Anfang April versammelte White Eyes eine Handvoll Jugendliche und fuhr mit ihnen in das zwei Stunden nördlich gelegene Standing-Rock-Reservat. Dort wurden sie von mehreren Aktivisten empfangen, aber nur von einem Stammesvertreter. Gemeinsam gründeten sie nahe der geplanten Missouri-Unterquerung der Pipeline das erste Protestcamp und nannten es „Sacred Stone“. Sie beteten, hielten Zeremonien ab und beobachteten die Bauarbeiten.
Im Frühsommer schlug eine Bewohnerin Standing Rocks vor, Staffelläufe und andere Rennen zu veranstalten. Erst in den Mittleren Westen, dann bis nach Washington. „Was ist das strategische Ziel?“, hatte White Eyes sie gefragt, „in Washington haben sie sich noch nie für Ureinwohner interessiert.“ Doch dann half er, Freiwillige zu rekrutieren, und rannte selbst 23 Tage lang mit.
Bis auch die Stammesoberen in die Camps kamen und ihre Unterstützung anboten, sollte einige Zeit vergehen. Der Lauf nach Washington war der Wendepunkt. Die Camps in der Prärie schwollen an, zeitweise lebten dort 10.000 Bewohner, um zu protestieren.
Kolonialisierte Köpfe
Vertreter aus fast allen der 562 Indianerstämme der USA stellten ihre Fahnen auf, Ureinwohner aus aller Welt schickten Solidaritätserklärungen und Spenden, Essen und Baumaterial. Auch Sympathisanten ohne indigene Wurzeln stießen hinzu. Die jungen Aktivisten mobilisierten immer weiter, informierten über soziale Medien. Sie hielten keine langen Reden, sondern sagten direkt, was sie dachten. „Die Älteren haben einen kolonisierten Kopf“, sagt White Eyes, „wir sind freier als unsere Großeltern.“
Zusätzlich sorgte die Polizei für Schlagzeilen. Je öfter sie die Campbewohner mit Pfefferspray und bissigen Hunden attackierte, desto stärker wuchs die Sympathie der Bevölkerung für die Wasserschützer.
Eine alte Sioux-Prophezeiung besagt, dass eine siebte Generation kommen und für Veränderung sorgen wird. In den letzten Jahrhunderten haben die Ureinwohner fast alles verloren. Von ihren weiten Ländereien sind ihnen nur winzige und isolierte Reservate geblieben. Statt ihrer Kulturen haben sie vor allem Angst, die daher rührt, dass ihre Großeltern zwangsweise in Internate geschickt worden sind. Dort sollte ihnen alles Indianische ausgetrieben werden. „Das hat unsere Familien zerstört“, sagt White Eyes.
Die meisten Camps am Missouri sind inzwischen geräumt. Und die Dakota Access Pipeline wird demnächst fertiggestellt. Aber die Wasserschützer geben sich nicht geschlagen. Manche denken jetzt darüber nach, Ventile zu verschließen. Andere wollen die schwarze Schlange wegbeten. Wieder andere hoffen auf das Gerichtsverfahren vor einem Bundesgericht, das im April entscheiden will.
Gebraucht werden
Für den 18-jährigen Ezekiel waren die letzten Monate der Beginn einer Lehrzeit. Als er auf seiner Baustelle in Flagstaff gekündigt hatte, sagte er zu seinem Vorarbeiter: „Ich muss an einen Ort gehen, wo ich gebraucht werde.“ Der Vorarbeiter, ebenfalls ein Ureinwohner, verstand. In North Dakota, mehr als 2.100 Kilometer nördlich seiner Heimatstadt, entdeckte Bahee seine Identität und seine Stärke. „Als Kind habe ich viel Gewalt und Missbrauch gesehen“, sagt er, „jetzt kann ich endlich das tun, wofür ich damals zu klein war: Ich kann andere schützen.“
Er will zu anderen Orten in den USA weiterziehen, dorthin, wo indianische Aktivisten begonnen haben, gegen Pipelines, Ölbohrungen und Kohleabbau zu protestieren. „Wenn ich genug gelernt habe“, sagt er, „gehe ich nach Hause zurück, um dort zu kämpfen.“
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