Pionierin beim Schlittschuhrennen: Ohne Widerstände übers Eis
Die holländische Dienstbotin Jitske Gaastra lief als erste Frau 1912 beim Elfstedentocht-Rennen mit. Sie wurde gleich zum Star der Veranstaltung.
D ie Geschichten der Pionierinnen in praktisch jeder Sportart handeln immer auch von Kämpfen, denn widerstandslos ließ das Sportpatriarchat Frauen nur selten mitmachen.
Eine Ausnahme ist der niederländische Elfstedentocht, der zwar streng genommen keine eigene Sportart, aber doch eine der bekannteste (Amateur-)Sportveranstaltungen der Welt ist. Was auch daran liegt, dass er so selten stattfinden kann, denn das durch elf friesische Städte führende Schlittschuh-Rundrennen von Leeuwarden nach Leeuwarden kann nur gestartet werden, wenn strenger Frost herrscht, Kanäle und Flüsse zugefroren sind. In diesem Jahr wäre es fast soweit gewesen, aber eben nur fast. Deswegen bleibt der letzte der insgesamt 15 Elfstedentochts der des Jahres 1997.
1909 hatte die Premiere stattgefunden. Natürlich machten damals nur Männer mit, aber das sollte sich nur drei Jahre später ändern. Jitske “Jikke“ Gaastra, am 2. Januar 1888 geborene Tochter eines Arbeiters und einer Näherin, hatte 1909 zugeschaut und war so begeistert, dass sie 1912 auch starten wollte. Für das große Ereignis hatte sich die damals 24-jährige Dienstbotin einer reichen Leeuwardener Familie extra zwei Tage freigenommen. Mit dem heutigen Spektakel, an dem bis zu 30.000 Menschen teilnehmen, hatte der Elfstedentocht damals nichts zu tun. Gerade einmal 55 Schlittschuhbegeisterte gingen an den Start. Und das bei äußerst widrigen Umständen: Tauwetter hatte eingesetzt, es war windig und regnerisch. Eine Absage wurde von den Organisatoren in Erwägung gezogen. Die Aktiven sprachen sich aber mit 37 zu 28 Stimmen für das Rennen aus.
„Unter Hurrageschrei“, wie der Leeuwardener Courant berichtete, machte sich die erste Frau auf den Elf-Steden-Weg. Mit ihrem Bruder Jelle hatte sie sich akribisch vorbereitet. Und weil die Begeisterung für die Pionierin immens war, wissen wir sogar, was sie während des Rennens trug: einen weißen Pullover, einen grünen Rock und eine grüne Mütze sowie Radlerhosen. Jikkes Mutter hatte ihr außerdem Friese doorloper geborgt, die ab der Jahrhundertwende populär gewordenen Schlittschuhe mit langen eisernen Kufen, die unter Straßenschuhen befestigt wurden.
Bürgermeister an der Strecke
An den Kontrollpunkten wurden die Teilnehmer mit heißem Kakao und Erbsensuppe versorgt. Ob Jikke dort aber viel Zeit zum Essen und Trinken blieb, ist fraglich, denn rasch zeigte sich, dass sie der große Star des Rennens war. Auf jeder Etappe wurde sie von den Bürgermeistern persönlich begrüßt, dazu erhielt sie Geschenke wie Blumensträuße und in Sloten sogar eine Silberbrosche mit einem kleinen Schlittschuh.
Der Endpunkt des 1912er Elfstedentocht war unvorhergesehen Sneek. Um 18.06 Uhr kamen Jikke und Jelle im Dunkeln dort an, unter tosendem Applaus und dem Knall eines abgefeuerten Kanonenschusses. Zu ihrer Enttäuschung erfuhren sie, dass das Eis auf der weiteren Strecke für nicht mehr tragfähig erklärt worden war. Die Zuschauer trugen sie auf ihren Schultern zum Zug nach Leeuwarden, wo ein großer Ball zu Ehren der Elfstedentochtler stattfand.
Obwohl sie das Rennen nicht hatte beenden konnte, wurde ihr ein goldenes Ehrenabzeichen überreicht, die Lokalzeitung nannte sie “große Heldin.“ Das sah man offenkundig auch in anderen Ländern so, in den folgenden Monaten erhielt sie Fanpost und Geschenke aus aller Welt.
Über das weitere Leben von Jikke ist nicht allzuviel bekannt. Nach dem Elfstedentocht lernte sie den Schuster Jaap Minderhout kennen, den sie 1917 heiratete. Das Paar zog nach Hilversum, wo es zunächst vier Töchter bekam. Von den 1920 geborenen Zwillingen Geeske und Ruurdtje überlebte zunächst nur Ruurdtje, Geeske verstarb im Alter von fünf Tagen aus unbekannten Gründen. 1925, Jaap war inzwischen in Meppel zum Leiter einer Fabrik avaniert, wurde Sohn Abraham Jacob geboren. Drei Jahre später musste die Familie den Tod der inzwischen elfjährigen Ruurdtje verkraften, die an der damals unheilbaren offener Tuberkulose erkrankt war.
Während des 2. Weltkriegs zog sie zurück nach Friesland, aber auf das Schlittschuhlaufen verzichtete Jelle weitgehend. In kalten Wintern kontrolliere sie aber nach wie vor, ob das Eis für einen neuen Elfstedentocht geeignet sei, erzählte sie 1959 der Frauenzeitschrift “Margriet“. Vier Jahre später starb Jelle, ihre Tocht-Schlittschuhe sind im Friesischen Schifffahrtsmuseum ausgestellt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands