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Pianist Jan Lisiecki über Sinne und Stille„Frédéric Chopin ist mein Parfum“

Jan Lisiecki ist zwanzig Jahre alt und Starpianist. Er liebt es, wenn das Publikum so gebannt ist, dass es vergisst zu klatschen.

Jan Lisiecki sieht bei Unruhe im Publikum auch die Künstler in der Verantwortung: „Es ist mein Job, die Leute mitzureißen“. Foto: Anja Weber
Stefan Hochgesand
Interview von Stefan Hochgesand

Die Philharmonie in Berlin, Jan Lisiecki schleicht sich durch den Seiteneingang, hoch zum Probenraum. Am Steinway, mit Brille, sieht er aus wie einer, der brav übt. Beim Reden wird er locker, da nimmt er die Brille ab und fängt an zu scherzen: Hätten ja ordentlich Bierflaschenböden dran glauben müssen, für diese bunten Philharmonie-Fenster. – Und er hätte die Flaschen gern selbst geleert? „Klar.“

taz.am wochenende: Herr Lisiecki, es ist nicht mal Mittag und Sie haben schon drei Stunden am Klavier trainiert. Gibt es keine lässigeren Uhrzeiten?

Jan Lisiecki: Ich stehe einfach gern früh auf, besonders wenn ich zu Hause bin. Das hat ein paar Gründe: Es ist still. Aber auf eine andere Art still als abends. Die Menschen beginnen ihren Tag. Es wird nicht partylaut. Man ist noch unbelastet von den Gedanken, die sich im Lauf des Tages übereinanderlagern. Ich beginne aus dem Nichts.

Nach den Konzerten, im Hotelzimmer, setzen Sie sich nicht mehr an den Flügel?

So gut wie nie. Ich übe auch nicht abends. Um 17 Uhr bin ich fertig.

Ist Passion eigentlich wichtiger als Technik?

Meine Lehrerin wollte, dass ich ein Stück spiele, das in meinen Augen eine reine Technikübung war. Da steckte keine Musik drin. Sie meinte: Du musst das halt trainieren, bevor du richtige Musik spielen kannst. Ich fragte: Gibt’s nichts anderes? Dann kam sie mit den Chopin-Etüden. Das sind zwar Trainingsstücke, aber völlig anders. Keine 08/15-Fingerübungen.

Bei den Chopin-Etüden geht es nicht ums Angeben.

Eben. Man kann sie natürlich auch auf eine Angebertour spielen, aber die spannendere Art ist es doch, ihrer Schönheit einen Ausdruck zu geben.

Die 12. Etüde zum Beispiel, die sogenannte Revolutionsetüde, spielen Sie mit weniger Drive als andere. Sie konzentrieren sich da mehr auf die schmerzhaften Momente.

Der Spitzname – Revolutionsetüde – kommt ja nicht mal von Chopin …

taz.am wochenende

46 Mal hat es laut BKA 2015 in deutschen Flüchtlingsheimen gebrannt. Kaum ein Fall ist aufgeklärt. Wir ermitteln in alle Richtungen, sagt die Polizei stets. Aber was heißt das? Die Geschichte eines Falls aus der Oberpfalz lesen Sie in der Titelgeschichte „Die Stadt und die Flammen“ in der taz. am wochenende vom 31. Oktober/1. November. Außerdem: Wer gibt schon gerne zu, dass er kokst? Die Wahrheit darüber, was wir wann und wo nehmen, kennt das Abwasser. Und: Viele Deutsche mögen Halloween nicht. Dabei ist es das Fest gelungener Integration. Das alles gibt es am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

… wie die meisten Klassik-Spitznamen nicht von den Komponisten stammen.

Für mich steckt die 12. Etüde voller Schmerz und Leid. Ist daran eine Revolution schuld? Nein. Es könnte doch um jede Art von Schmerz gehen.

Sie können sehr, sehr schnell spielen.

Aber es gibt richtige und falsche Zeitpunkte dafür. Man darf das Publikum nicht von Anfang bis Ende in einer Stimmung lassen, bei einer Farbe, an einem Ort. Unsere Aufmerksamkeitsspanne ist nicht lang, nicht mal, wenn die Musik richtig gut ist.

Die unterschiedlichen Stimmungen, die Sie brauchen, haben Sie mal mit Parfum und Kaffeebohnen verglichen.

Ja, als ich alle Chopin-Etüden aufgenommen habe. Tagelang nur Chopin. Wie soll man sich da die Perspektive auf sein eigenes Spiel bewahren? Mit jedem Komponisten ändert sich nämlich die Art, wie ich das Klavier berühre. Chopin ist mein Parfum. Um es richtig zu genießen, muss ich zwischendurch mal an Kaffeebohnen schnuppern: Bach!

Wie riecht Chopin?

Richtig gut!

Im Interview: 

Der Mensch: Jan Lisiecki wurde 1995 als Kind polnischer Eltern im kanadischen Calgary geboren.

Die Musik: Lisiecki bestreitet, ein Wunderkind zu sein. Als Neunjähriger trat er erstmals mit Orchester auf, mit 17 begann seine internationale Karriere als Pianist. Seine erste Plattenaufnahme machte er 2012: Mozart.

Und wie lernen Sie ein Stück Musik kennen?

Am liebsten schaue ich erst mal in die Noten, um meine Ideen zu finden. Mein eigenes Konzept dieses Stücks. Ohne zu wissen, wer vorher was anders gemacht hat und warum. Ich will frisch starten, ohne Vorbelastung.

Das geht sicher nicht immer. Viele Stücke werden Sie vorher schon gehört haben.

Stimmt, da hat man schon ein paar Ideen intus. Trotzdem will ich mir Stücke selbst erarbeiten, nicht einfach nachspielen.

Klingt Ihre Interpretation von Tag zu Tag anders, je nach Gefühlslage?

Ich glaube, wie ich spiele, spiegelt nicht unbedingt meine Tagesstimmung. Manchmal habe ich einen traurigen Tag und die fröhliche Musik wird zum Eskapismus. Aber Musik muss wahrhaftig sein, die Stimmungen, die aufs Publikum übergehen sollen, kann ich nicht herzaubern. Dass man etwas hundertmal geprobt hat, hilft gar nicht so viel dabei, es schließlich vor einem Publikum zu spielen.

Sie lachen viel. Woher kommt der Schmerz in Ihrem Spiel?

Ich geb ja zu, bisher musste ich im Leben wirklich wenig Schmerz erfahren. Wenige Verluste. Aber weil ich keinen Todesschmerz erlebt habe, heißt das doch nicht, dass ich ihn nicht in der Musik zum Ausdruck bringen kann, oder? Die menschliche Fantasie ist doch extrem mächtig. Wenn ich mich selbst davon überzeuge, dass ich diese Geschichte erzählen kann, kann ich es auch. Das ist wie mit einem Shakespeare-Stück …

… der Macbeth-Schauspieler muss im richtigen Leben kein Mörder sein?

Genau. Wenn er Talent hat, kann er’s trotzdem spielen.

Talent kann man aber nicht trainieren.

Man kann vielleicht nicht trainieren, sich Schmerz vorzustellen, aber man kann jemanden dazu ermutigen, es zu versuchen. Manche Musiker verlieren sich in den technischen Aspekten. Für mich ist das ein bisschen wie Eiskunstlauf: Klar gibt’s den technischen Aspekt. Und die Olympia-Juroren geben die besten Noten für Sprünge wie den dreifachen Rittberger oder so. Aber beim Publikum kommen die am besten an, die mit artistischer Schönheit glänzen – und dazu noch richtig landen.

Die 3. Chopin-Etüde in E, die Ihnen Ihre Lehrerin damals mitgebracht hat, um zu beweisen, dass Übungsstücke schön sein können, war auf grünes Papier gedruckt. Sie nennen sie deshalb die grüne Etüde.

Für mich ist das auf immer miteinander verbunden, die Farbe Grün und dieses Stück. Ist ein wenig wie Synästhesie.

Sehen Sie Farben, wenn Sie Musik hören?

Das nicht. Aber man stellt Verbindungen her. Dur-Tonarten sind für mich grün.

Moll hat keine Farbe?

Blau könnte Dur oder Moll sein. Ich muss nicht alles auf die gleiche Weise sehen. Manchmal sag ich: In dieser Musik steckt eine Geschichte. Dann fragen die Leute: Was für eine Geschichte? Aber ich meine keinen Plot mit Anfang, Mitte, Ende. Sondern das, was gerade passiert.

Sonst würde man die Geschichte ja auch mit Worten erzählen. Es geht aber um Klang.

Ich versuche immer, das Klavier wie eine menschliche Stimme klingen zu lassen. Die stärksten Momente mit dem Klavier entstehen, wenn man damit etwas anstellt, das unmöglich scheint: es wie ein ganzes Orchester klingen zu lassen. Fünf Stimmen gleichzeitig. Bei Bach geht das! Und das kann nur das Klavier.

Haben Sie mal Orgel probiert?

Ja, das verwirrt mich aber. Kleinere Wendungen wie auf dem Klavier sind damit unmöglich.

Cembalo?

Auch sehr anders. Extrem!

Sie spielen gern Chopins erstes Klavierkonzert. Chopin schrieb das, als er so alt war wie Sie jetzt: zwanzig. Gehören Jugend und Revolution zusammen?

Dass er so was in meinem Alter geschrieben hat! Ein unglaubliches Mysterium. Ich stand mit Orchestern auf der Bühne, seit ich zehn bin. Ich war für die damals bloß ein kleines Kind.

Wann hat sich das geändert?

Als es an die Musik ging. Plötzlich haben die Leute Respekt vor dir. Auch wenn die Musiker über vierzig sind und der Dirigent fünfzig ist.

Wie steht’ s um die Beziehung zu Ihrem Klavier zu Hause?

Mein Steinway zu Hause heißt Sebastian.

Sie sehen sich nicht oft.

Nein, ich schaffe es nicht so oft nach Hause. Aber ich habe eine besondere Beziehung mit ihm. Das Ding mit den Konzerthallen ist: Klar muss ich mich jedes Mal an die Flügel dort anpassen. Und manche sind wirklich nicht ideal. Trotzdem muss man mit diesen Instrumenten zurechtkommen wie mit einem Freund: Man muss die Stärken kennen. Und man muss die Schwächen kennen.

Klaviere haben sich verändert mit der Zeit, es wird auch anders gespielt als früher. Macht Sie das nostalgisch?

Nein, ich finde das Klavier ganz wunderbar, wie es heute ist. Es gibt ja auch keinen Grund, ein Formel-1-Rennen mit Autos aus dem 19. Jahrhundert zu veranstalten. Vielleicht ist das interessant, so was zu sehen. Aber viel interessanter ist es doch, Autos, die über 200 km/h fahren, zu sehen.

Ähnlich verhält es sich mit den Konzerthallen?

Manchmal mag ich intime Settings. Das heißt aber nicht, dass in der Berliner Philharmonie vor 2.440 Menschen zu spielen schlechter wäre. Es ist anders.

Manche sagen, verschiedene Tonarten hätten verschiedene Eigenschaften. Was denken Sie?

Ich würde ein Stück niemals in eine andere Tonart umschreiben. Chopins erstes Klavierkonzert steht in E-Moll und so soll es auch sein. Es gibt Details, die nur in E-Moll funktionieren.

Hat jede Tonart ihr eigenes Gefühl?

Hängt davon ab, was der Komponist daraus macht. Chopin stellt mit einer Tonart was anderes an als Beethoven oder Mozart.

Man könnte bei Chopins erstem Klavierkonzert böswillig sagen: Das Orchester ist Deko. Bei Beethoven ist das anders, da streiten Klavier und Orchester miteinander.

Klar, wenn man Beethoven das Orchester nimmt, bleibt vom Klavier nicht viel übrig.

Bei Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 startet man als Pianist aus dem Nichts.

Das ist unglaublich herausfordernd. Man kommt gerade auf die Bühne und soll schon magisch sein.

Chopins erstes Klavierkonzert könnten Sie solo spielen.

Das hab ich auch schon, das Stück gibt es her. Aber das Orchester mischt Farbe hinzu, Emotion, Textur. Ist es Deko? Bestimmt, aber ich bin an vielen Stellen auch bloß Deko! Vielleicht wäre es wichtig zu wissen, wann man Deko ist und wann nicht.

Als Orchestermusiker kann man kein Egomusiker sein, man muss auf die anderen Stimmen hören. Wie halten Sie sich ruhig, während Sie auf Ihren Einsatz warten?

Zu einem gewissen Grad bin ich immer aufgeregt. Aber man weiß ja, wie’s läuft. Man macht es nicht zum ersten Mal.

Also haben Sie kein Ritual?

Wie Bananen essen? Nein. Ich versuche, schöne Tage zu verbringen, wenn abends Konzerte anstehen.

Und abends tragen Sie dann Fliege.

Ja. Die Fliege bringt Spaß. Männer können optisch so wenig machen auf der Bühne. Aber ich will doch was von der Farbe, nach der ich mich fühle. Und wissen Sie was? Farbe schaffe ich nicht nur mit der Fliege, sondern auch mit meinen Socken. Ansonsten steh ich ja auf den Klassik-Look auf der Bühne.

Nerven Sie manche Klassik-Regeln nicht? Etwa: Dass man zwischen den Sätzen nicht applaudieren soll.

Es ist mir ein Rätsel, warum man bei Schumanns erstem Klavierkonzert nach dem ersten Satz nicht applaudieren sollte. Es hat ein grandioses Finale mit Trubel und Triumph! Dieser Satz war ursprünglich sogar ein Stück für sich. Es ist Tradition, dass man zwischen den Sätzen nicht klatscht, und wir haben uns dran gewöhnt. Aber ganz ehrlich: Applaus wäre doch viel toller als Husten. Ich finde, ein intelligentes Publikum applaudiert, wenn es sich danach fühlt. Ich freu mich drüber.

Und Applaus wäre wohl auch toller als Handyfilmer?

Wenn ich eine neue Regel aufstellen könnte, wäre das: Alles abschalten beim Konzert. Ich finde, die Leute sollten ihre Handys draußen lassen können, in Schließfächern wie für Mäntel oder Schirme.

Viele wollen bei den Konzerten aber den Moment konservieren, darum fotografieren oder filmen sie. Oft heißt es: Dadurch verpassen sie den Moment. Finden Sie das auch?

Ja. Beim Reisen ist das anders: Da sieht man wirklich andere Dinge, wenn man eine Kamera mit sich trägt. Beim Konzert sieht man vor allem den Screen, da denke ich mir: Leute, wenn ihr diese Videos wollt, geht doch auf YouTube, da findet ihr Hunderte.

Wahrscheinlich sogar bessere als die eigenen.

Ich sage übrigens nicht, dass die Künstler an Unruhe keine Schuld tragen. Es ist mein Job, die Leute mitzureißen. Und es klappt nicht immer. Stille ist ein Segen. Wenn die Menschen gebannt sind und auf jedes Detail, jede Note horchen. Diese Stille des Publikums ist sogar mehr wert als jeder Applaus.

Der Applaus befreit bloß von der Spannung?

Manchmal bekommen ganz beeindruckende Auftritte auch nur wenig Applaus, weil das Publikum noch so gebannt ist. Manche Enden heischen nicht groß nach Applaus.

Wenn man Sie hört, merkt man aber, dass Sie gegen Ende noch mal auf volles Tempo gehen. Wie die Formel-1-Fahrer, von denen Sie sprachen.

Ja, stimmt, das mag ich, wenn die Enden voller Energie sind.

Schreien Sie da nicht nach Applaus?

Nicht unbedingt. Chopin hat das Tempo bestimmt, nicht ich.

Auftritt in der Berliner Philharmonie, im Festspielhaus Bregenz, gerade in London, als nächstes in Luzern. Was bleibt von solchen Abenden?

Ein bisschen Adrenalin bleibt mir dann noch. Ein Problem ist das nicht, einsam macht es mich nicht. Ich weiß ja: Morgen mach ich’s wieder und übermorgen auch. Nach manchen Konzerten will ich grübeln, nach anderen bin ich ganz müde und will sofort schlafen. Und das hat nichts damit zu tun, ob es jetzt gut oder schlecht lief, es hat mehr mit dem Gefühl des gesamten Tages zu tun. Manche brauchen das, hinterher was trinken zu gehen.

Sie nicht?

Je nachdem. Abendessen mit Leuten, die ich mag, mag ich natürlich schon. Das hat dann aber meistens weniger mit dem Essen zu tun: Nach einem Konzert bin ich satt.

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