Pflegenotstand in der Praxis: Ein Tag im Leben des Altenpflegers
Medizin dosieren, Wasser bringen, einsalben, anziehen, Arbeit dokumentieren – und reden. Aber schnell, denn die Zeit für Matthias Bauerkamp rast.
Es ist kaum etwas zu hören, als er mit Sportschuhen den langen Flur in der dritten Etage des Seniorenheims St. Konrad entlangeilt. Nur hinten im Aufenthaltsraum läuft leise ein Radio, eine Frau wischt, eine andere bereitet in der offenen Küche Brote, Käse und Wurstscheiben vor. In aller Ruhe, der Ruhe vor dem Aufwachen.
Bauerkamp geht zum Stationszimmer, eine Art einsehbares Büro, grüßt seine Kolleginnen und Kollegen, um dann einen Blick in den Tagesplaner zu werfen. „Wir sind heute sechs Leute statt drei“, sagt er verwundert, „Das wäre schön, wenn das immer so wäre.“
Die Einrichtung der katholischen Caritas hat zugestimmt, den 35-Jährigen eine Schicht lang begleiten zu dürfen. Nur wurde offenbar zum Pressebesuch das Personal verdoppelt. Normalerweise versorgen auf dieser Etage eine Pflegefachkraft und zwei Pflegehelfer 30 Menschen.
Früher Morgen: Medikamente dosieren
Matthias Bauerkamp öffnet Schränke, hinter denen Medikamente und Patientenakten verstaut sind. Er tröpfelt Flüssigkeiten in kleine Becher, vor allem Schmerzmittel, aber auch Mittel gegen epileptische Anfälle, und ordnet sie verschiedenen Namen zu. Medikamente, die auf nüchternen Magen verabreicht werden sollen.
Nebenbei unterhält er sich mit einer Kollegin, die kurz in ein privat betriebenes Heim wechselte und nun wieder zurückgekehrt ist. Sie winkt ab. „Ach, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen. Ich wollte näher an meinem Zuhause arbeiten. Aber die Arbeitsbedingungen dort waren eine Katastrophe.“
Die Politik nennt diese Katastrophe Pflegenotstand. Fehlendes Personal, schlechte Bezahlung und miserable Arbeitsbedingungen, all das ist bekannt. Ein Pflegepersonalstärkungsgesetz soll die Situation verbessern. Seit Januar können 13.000 Vollzeitstellen in der stationären Altenpflege neu geschaffen werden – ohne die Pflegebedürftigen finanziell zu belasten.
Für Zentrumsleiterin Melanie Micka-Herzmann bedeutet es „ein Mehr an Personal, das aber erst gewonnen werden muss“. Und das wiederum scheint nicht so einfach zu sein. „Wir hatten gestern eine, die Probe gearbeitet hat, eine Gute“, erzählt eine andere Kollegin, „sie kommt auch aus der Pflege, aber sie hat ein kleines Kind und könnte deshalb nur Frühdienste arbeiten. Nun, das wäre den anderen gegenüber auch nicht fair.“ Ein Gespräch über Dienstpläne, Mütter mit kleinen Kindern, Kitaöffnungszeiten, Teilzeit und Vereinbarkeit nimmt Fahrt auf, da schlurft die Pflegerin vom Nachtdienst zur Übergabe rein. Sie trägt ein langes rosa Hemd, auf dem Pudel aufgedruckt sind. Sie grüßt kurz und legt dann los:
Herr Braun hat nachts 'ne Zigarette geraucht“, sagt sie. „Frau Breu ist auf den Boden geglitten und hat etwas erbrochen. Sie ist weinerlich und sturzgefährdet. Wir haben eine neue Bewohnerin aus Chemnitz, eine alte Krankenschwester. Herr Schmitt ist gestern ohne Jacke ausgerissen und wurde von einem Notarzt aufgefunden und zurückgebracht.“
Sie geht routiniert ihre Liste durch, was am Vortag und in der Nacht passiert ist, wer wann was bekommen hat, wer wurde gelagert, wer hatte Geburtstag. Nachdem sie ihre Übergabe beendet hat, fünf nach sieben, sagt sie, „Vielen Dank. Gute Nacht, ihr Lieben.“ Auch das bedeutet Pflege: Arbeiten im Schichtdienst, Schlafen gehen, wenn andere anfangen zu arbeiten.
Morgen: Wasser bringen, Beine einsalben
Kurz einigen sich die Pflegekräfte der Frühschicht, wer welche Aufgaben übernimmt, dann läuft Bauerkamp mit seinem Medikamententablett auch schon zur ersten Tür, klopft kurz und fragt: „Frau Wust, darf ich reinkommen?“
„Ja“, antwortet eine Stimme, die noch etwas verschlafen klingt.
Bauerkamp öffnet die Tür, es ist noch dunkel im Raum, außen im Flur leuchtet ein grünes Licht auf, das Zeichen dafür, dass eine Pflegekraft im Zimmer ist. Er flüstert fast: „Guten Morgen. Ich stell Ihnen das auf den Nachttisch. Und ein Glas Wasser, ja? Sehen wir uns später beim Frühstück?“
„Ja.“ Dann ist Bauerkamp auch schon wieder draußen und geht zum Zimmer nebenan, wo Frau Schuster wohnt. „Sie ist neunzig, relativ fit, hat aber eine starke demenzielle Erkrankung.“ Er fragt sie, ob es okay ist, jemanden von der Zeitung mit ins Zimmer zu nehmen. „Ja“, sagt Frau Schuster, „warum denn nicht?“ Sie freut sich und ist gerade in Unterwäsche aus dem Bett gestiegen.
„Legen Sie sich doch nochmal kurz hin, ich schaue mir die Beine an.“ Bauerkamp fährt das Kopfteil des Bettes hoch, damit der Oberkörper aufgerichtet ist, und greift dann behutsam die nackten Beine der Frau und streicht über eine Stelle. „Juckt das hier?“
Sie schüttelt den Kopf. Über dem Bett hängt ein großes Bild eines Bergsees, an einer anderen Wand hat sie Familienfotos aufgehängt. „Die Wassereinlagerungen in den Beinen sind aber besser geworden.“ Der Umgang wirkt vertraut zwischen den beiden, Bauerkamp bandagiert eine Stelle am Bein und zieht ihr Kompressionsstrümpfe an, hilft ihr, in die Hose und Schuhe zu kommen, und setzt ihr die Brille auf. Neben ihrem Bett steht ein Gehstock, beschriftet mit ihrem Namen.
„Frau Schuster, Sie hatten doch mal einen Friseursalon“, sagt Bauerkamp. „Ja“, antwortet sie kurz, bevor sie gleich wieder ins Schweigen fällt. „Wie viele Angestellte hatten Sie denn?“
Dann überlegt die Neunzigjährige, die seit vier Jahren im Altenheim wohnt, und sagt: „Ich weiß es nicht mehr.“ Mit jeder neuen Tür, die Bauerkamp öffnet, strömen den Besuchern unterschiedliche Gerüche entgegen, mal riecht es muffig nach Schlaf, mal beißend, mal nach Krankheit und mal nach frischen Blumen. Gerüche, die daran erinnern, um was es beim Pflegen geht: möglichst respektvoll mit der Intimsphäre eines Menschen umzugehen, würdiges Altern zu ermöglichen, Begleitung auf der letzten Etappe. Die einen reden kaum noch und vergessen. Manche sind körperlich relativ eigenständig, andere leiden an Depressionen und sind kaum aus dem Bett zu bekommen. Um ihre Privatsphäre zu schützen, wurden alle Namen der Pflegebedürftigen von der Redaktion geändert.
Vormittags: Haare kämmen, sprechen und und und
Bauerkamp, der seit vier Jahren in der Einrichtung arbeitet, kennt alle, die hier leben, und viele der Geschichten, die sie erlebt haben. Zu jeder Person hat er eine eigene Beziehung aufgebaut. Mit Frau Klauert ist er heimlich per Du, verrät er. „Eigentlich müsste ich es in die Pflegeplanung eintragen, wenn ich eine Bewohnerin duze.“ Während er der alten Dame die langen grauen Haare kämmt, sagt sie „Danke schön, mit meinen Händen schaffe ich das nicht mehr.“
Dann erzählt sie von ihrer Familie, von ihren Schwiegersöhnen, die sie sehr gern hat und die nicht wollen, dass sie sich die Haare abschneidet. Am Ende des Kämmens schaut sie Bauerkamp tief in die Augen und sagt verschmitzt: „Gefalle ich dir jetzt?“ Dann lachen beide und sie fügt hinzu: „Er macht das hier ganz toll.“ Und beim Gehen ruft sie ihm hinterher: „Danke für das Gespräch.“ Auf dem Weg in den Frühstücksraum sagt er, „Das hier heute ist kein realer Ablauf. So viel Zeit zum Reden haben wir oft nicht.“
Matthias Bauerkamp, ein schlanker Mann mit ergrautem Haar, der schnell durch die Flure eilt und gleichzeitig redet, ist als Mann in diesem Beruf eher die Ausnahme. Altenpflege ist weiblich dominiert, 84 Prozent der Pflegekräfte sind Frauen, viele arbeiten in Teilzeit. „Als männliche Pflegekraft bin ich für viele eine willkommene Abwechslung“, sagt er, „Aber manche Frauen wollen auch nicht von Männern gewaschen werden, das ist ja ein sehr intimer Moment. Leider können wir diese Wünsche nicht immer berücksichtigen. Ich frage mich, wie es sein wird, wenn wir in ein paar Jahren auch muslimische Frauen hier haben werden. Wie kultursensible Pflege aussehen kann.“
Das Seniorenheim mit 89 Pflegeheimplätzen ist Teil des Seniorenzentrums St. Konrad, zu dem auch ein Seniorenwohnhaus und eine Tagespflege gehören. Im Frühstücksraum, einem hellen Raum mit Parkett, sitzen gegen acht Uhr morgens acht Frauen und drei Männer verteilt an fünf Tischgruppen. Auch das ist überall in Deutschland so: Es leben mehr Frauen in Pflegeheimen als Männer. Bauerkamp sagt: „Viele der Bewohnerinnen sind über 90 Jahre alt. Viele haben ihren Vater im Krieg verloren und ihren Mann, haben wieder geheiratet und auch diesen später wieder begraben.“
Vom Frühstücken im Seniorenheim
Jede Person hat hier ihren festen Platz, gerade für Menschen mit Demenz ist Routine wichtig. An einem Tisch wird etwas untereinander gequatscht. Aber ansonsten sitzen viele ruhig über ihrem Teller, während in einer Ecke eine kleine Wassersäule mit künstlichen Fischen vor sich hin blubbert. Kein Smartphone liegt auf dem Tisch.
Im Seniorenheim zu leben bedeutet nicht nur, sich nicht mehr richtig zu erinnern oder die Hose nicht alleine anziehen zu können. Es heißt auch, die eigene Wohnung, die Liebsten, das vertraute Umfeld zu verlassen und die Individualität eines ganzen Lebens in wenige Quadratmeter zu quetschen und sich dem Rhythmus des Altenheims anzupassen.
Matthias Bauerkamp
Von sieben bis zehn Uhr kann hier gefrühstückt werden. Auch das Mittag- und Abendessen findet dort statt. Dazwischen gibt es ein Programmangebot, das von Kraft- und Balancetraining über Gitarre und Gesang bis hin zu Maltherapie oder Kuchenbacken reicht. Es gibt zusätzliche Arbeitskräfte, die diese soziale Betreuung übernehmen. „Die Zukunft der Pflege muss noch individueller werden“, findet Bauerkamp, „Wir arbeiten in einem starren System, dann wird gegessen, dann gibt es Programm. Hier sitzen Menschen, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben. Aber die 68er-Babyboomer kommen ja noch, sie werden andere Bedürfnisse haben. Natürlich brauchen wir mehr Personal, aber wir haben noch nicht über Qualität gesprochen.“
Dann geht Bauerkamp zurück ins Stationszimmer, nimmt sich kurz Zeit, um in ein Mettbrötchen zu beißen. Nicht immer schafft er es, die halbe Stunde Pause zu machen, die ihm zusteht. Heute übernehmen seine Kolleginnen mehr Arbeit, damit er Zeit hat, zu erzählen. Über sich, über die Anstrengung des Schichtwechsels, dass manchmal Teller geworfen werden und Alte aggressiv werden können. Darüber, dass Pflege immer anspruchsvoller wird.
In der Gesundheitspolitik gilt der Leitsatz „ambulant vor stationär“. Bauerkamp sagt: „Die Menschen kommen erst dann in ein Pflegeheim, wenn sie nicht mehr zu Hause gepflegt werden können. Sie haben immer öfter neurologische Erkrankungen, Mehrfacherkrankungen, Demenz. Demenziell Erkrankte vergessen oft, wie viel sie schon getrunken haben, und manche dürfen aufgrund anderer Erkrankungen nicht zu viel trinken. Wir müssen jeden Tag Trinkprotokolle in Milliliter ausfüllen. Aber Sie sehen ja, es ist unmöglich, alles genau im Auge zu behalten.“
Bauerkamps Weg vom Theater ins Altenpflegeheim
Matthias Bauerkamp kam über Umwege in die Altenpflege. Mit 16 Jahren fand er seinen Weg ins Theater als Regieassistenz. Nach seinem Abitur studierte er Musik und brach wieder ab, reiste ein Dreivierteljahr durch Südamerika, machte später einen Bachelor in deutscher Literatur. Er ging wieder an die Bühne, arbeitete sieben Jahre fest am Badischen Staatstheater und inszenierte selbst. „Irgendwann hatte ich genug, ich war von zehn bis zehn bei der Arbeit“, erzählt er. Er fing an, Theologie an der Berliner Humboldt-Universität zu studieren, lernte dabei Althebräisch und Altgriechisch, bis mitten im Studium seine Oma erkrankte. Der Wendepunkt in Bauerkamps unruhigem Leben.
Matthias Bauerkamp, Altenpfleger
„Sie hatte seelische Leiden, Halluzinationen, ich fing an mich intensiv um sie zu kümmern. Meine Oma war dankbar dafür, aber ich war es auch. Ich habe mich gut in dieser Rolle gefühlt. Das Unmittelbare, was man zurückbekommt“, erzählt er. Er schmiss nach vier Semestern also nochmal hin und begann die dreijährige Ausbildung zum Altenpfleger. Er blieb dabei.
30 Stunden arbeitet Bauerkamp pro Woche, 2.000 Euro brutto verdient er monatlich, mit Schichtzulagen bleiben ihm etwa 1.650 Euro und er bekommt ein dreizehntes Monatsgehalt. Damit geht es ihm besser als den meisten anderen in der Branche. Die Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen der Caritas sind angelehnt an den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst. Donnerstags und freitags studiert Bauerkamp nebenbei Pflegewissenschaften an der Brandenburgischen Technischen Universität Senftenberg. Pflege, das ist ein Thema, das ihn beschäftigt, egal ob Roboter in der Pflege, Fachkräfte aus dem Ausland oder die Pflegepolitik von Jens Spahn.
„Alle Pflegenden hassen Merci“
Als der Name des Gesundheitsministers fällt, lacht die Wundschwester laut auf, die kurz zuvor ins Stationszimmer kam. Im Dezember 2018 besuchte Spahn das Klinikum Dortmund und brachte den Pflegenden eine Packung Merci vorbei. „Alle Pflegenden hassen Merci. Wenn wir Merci nur hören, macht schon alles zu. Wir möchten lieber mehr Zeit“, erklärt Bauerkamp und erzählt etwas amüsiert, dass der Gesundheitsminister unter Pflegenden oft „Spahnplatte“ genannt wird. Aber er sagt auch: „Jens Spahn hat eine anspruchsvolle Aufgabe. Er muss das Gesundheitssystem ins neue Jahrtausend führen.“
Dann spricht sich Bauerkamp mit der Wundschwester ab, einer externen Kraft, die regelmäßig vorbeischaut, Wunden versorgt und die Kommunikation mit den Ärzten übernimmt. Mehrere Bewohnerinnen leiden unter einer sogenannten Pergamenthaut, einer sehr dünnen Haut, die anfällig für Verletzungen ist. Die beiden drehen gemeinsam noch eine Runde, Bauerkamp misst Blutdruck, bevor er wieder in den Aufenthaltsraum geht zum Mittagessen. Es gibt Leber oder Schaschlikpfanne. Und während die Alten am Tisch sitzen, verabreicht er Augentropfen, wechselt ein Pflaster und spritzt Insulin.
„Wie viel sind zwei plus drei?“, fragt er einen Mann.
– „Fünf.“
– „Gut, Sie kriegen jetzt fünf Einheiten.“
Dokumentieren – bis in den Tod
Nach dem Mittagessen hat Bauerkamp seine Frühschicht auch schon fast geschafft. „Wir haben kaum Zeit, Azubis anzuleiten. Aber es ist eben nicht einfach nur Waschen.“ Zum Ende jeder Schicht setzt er sich noch eine Stunde in die Zentrale, um Pflegemaßnahmen, Medikamentengabe und den Gesundheitszustand der Pflegebedürftigen zu dokumentieren. Auf der Tastatur des Rechners ist ein Zettel angeheftet, handgeschrieben steht darauf der Name eines Bewohners, der kürzlich verstorben ist, und wann seine Beerdigung stattfindet.
Matthias Bauerkamp hat für sich entschieden, dort nicht hinzugehen. Eine Grenze, um sich selbst zu schützen. „Den ersten Toten vergisst man nie“, sagt er, „Wir müssen ja den Arzt anrufen und stundenlang warten, bis dieser zur Leichenschau kommt.“ Wenn die Leiche weggebracht ist und die Angehörigen das Zimmer ausgeräumt haben, dann dauert es nicht lange, bis die Zimmer an Neue vergeben werden, denn Pflegeplätze sind begehrt. Am Ende zeigt sich der Tod in leiser Präsenz, zwischen all dem Von-Tür-zu-Tür-Rennen und Dokumentieren, in einer Notiz am Rande.
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