Pflegekräfte aus dem Ausland: Schwester Julie wandert aus
Julie Nicolas ist Krankenschwester in der philippinischen Metropole Manila. Sie hat einen guten Job, trotzdem lässt sie sich von Deutschland abwerben.
MANILA taz | Es ist nicht so, sagt Julie Nicolas, dass sie kein gutes Leben hatte. Sie wohnt in einem Innenstadtviertel Manilas, kann den Eltern jeden Monat etwas Geld geben, selbst Urlaub in Hongkong und Singapur waren drin. Und trotzdem ist die junge Frau an diesem Freitagmorgen – der Himmel über Manila ist grau, der Wind böig – in das One Pacific Place gekommen, einen gläsernen Wolkenkratzer im Bankenviertel der Hauptstadt, um sich die Eintrittskarte für ein neues Leben abzuholen. Wenn alles läuft, wie es soll, wird sie in einem Monat in ein Land auswandern, in dem sie noch nie war und von dem sie wenig mehr weiß, als dass Menschen wie sie dort gebraucht werden.
Ein kleiner Konferenzraum im vierten Stock, die Vorhänge sind zugezogen, damit die Projektionen besser zu erkennen sind. Rund zwanzig junge Frauen, ein paar Männer sitzen auf Stühlen mit goldenen Rahmen, die Tische sind in der gleichen Farbe gedeckt. Das One Pacific Place ist eines der besten Hotels in der Stadt, trotzdem ist der Dresscode leger. In der Pause reden alle durcheinander, sie machen Selfies mit ihren Telefonen, es ist ihr letzter gemeinsamer Tag. Heute endet ihr Crashkurs für Deutschland.
Was ist eine private Krankenversicherung? Was sind Sozialabgaben? Was sind Bundesländer? Eine Woche lang hat ein Mitarbeiter der staatlichen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GiZ) die Kursteilnehmer gebrieft. Ihr Modellprojekt zur „nachhaltig ausgerichteten Gewinnung von Pflegekräften“ nennt die GiZ „Triple Win“. Drei Parteien sollen von der Sache etwas haben: Deutschland, die Philippinen und die Pflegekräfte.
Ähnliche Ausbildung
Julie Nicolas, 30, stammt aus Batangas, einer Millionenstadt rund 100 Kilometer südlich von Manila. Sie trägt ein beigefarbenes T-Shirt, Jeans und Sandalen und spricht lieber Englisch, auch wenn sie schon etwas Deutsch kann. Vier Jahre hat sie in Manila Krankenschwester gelernt, die staatliche Ausbildung ist der deutschen ähnlich. Die Eltern haben die Schule bezahlt, rund 600 Euro im Jahr. Der philippinische Staat zahlt also drauf.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass 2025 rund 940.000 Pflegekräfte in Deutschland gebraucht werden. Letztes Jahr gab es hier auf 100 freie Stellen in der Krankenpflege 84 Arbeitslose, in der Altenpflege 44. Auf den Philippinen sei es umgekehrt, schreibt die GiZ: Es gebe ein „Überangebot“ an qualifizierten Fachkräften, das die „lokalen Arbeitsmärkte nicht aufnehmen können“. Durch den zunehmenden Export von Pflegekräften seien viele ländliche Gebiete inzwischen unterversorgt“, kritisiert dagegen der Verband Entwicklungspolitik.
Der Verband Entwicklungspolitik Venro hat die deutsche Anwerbepolitik kritisiert. „Deutsche und EU-eigene Fachkräfte sind häufig nicht mehr bereit, die zunehmend schlechten Einkommens- und Arbeitsbedingungen zu akzeptieren“. Deshalb würde Deutschland verstärkt aus Drittstaaten anwerben. Die Bundesregierung exportiere so „den hausgemachten Pflegenotstand in die ganze Welt“.
Auf dem Kongress „Armut und Gesundheit“ am Donnerstag in Berlin sprechen Experten aus NGOs und Gewerkschaften über den Zusammenhang von Niedriglöhnen und der Migration von Fachpflegekräften. Nähere Infos: www.healthworkers4all.eu (cja)
2006 hat Julie Nicolas Examen gemacht, ein halbes Jahr lang suchte sie einen Job. 2008 fing sie in der Augenklinik des Chinesischen Krankenhauses in Manila an. Mit einer 40-Stunden-Woche verdient sie umgerechnet 250 Euro im Monat, dazu noch mal so viel an Zuschlägen. Genug für alle Rechnungen. Sie ist Single, in Manila, sagt sie, halte sie nicht viel. Ihr Chefarzt hat in Deutschland studiert, hin und wieder erzählt er davon. 2011 heiratete Nicolas’ Tante einen Deutschen und zog nach Nürnberg. Ein Jahr später kam sie zu Besuch. Die Deutschen seien „freundlich und pünktlich“, berichtete die Tante.
Inländische Tariflöhne
Im Februar 2013 besuchte auch Exaußenminister Guido Westerwelle die Philippinen. Rund zehn Millionen Philippiner arbeiten im Ausland, etwa ein Zehntel der Bevölkerung. Letztes Jahr haben sie fast 27 Milliarden Dollar in die Heimat geschickt, Tendenz stark steigend. Die Rücküberweisungen sind eine tragende Säule der Volkswirtschaft, die Philippinen der viertgrößte Empfänger weltweit.
Los Angeles, Dubai, Singapur, das sind Sehnsuchtsorte vieler junger Philippiner. Aber Deutschland? Tatsächlich arbeiten Migranten von den Philippinen in Ostasien oder den Golfstaaten zu teils katastrophalen Bedingungen als Haushaltshilfe oder auf dem Bau. Frauen müssen oft ihre Kinder in der Heimat zurücklassen. Gut bezahlte Jobs bekommen im Ausland nicht viele, solche mit europäischen Tariflöhnen fast nie. Er wäre erfreut, lässt Präsident Benigno Aquino Westerwelle wissen, wenn Deutschland sich für Arbeitsmigranten aus seinem Land öffnen würde.
Im Juni 2013 hörte Nicolas’ Chef einen Radiospot, mit dem die Behörde für Überseearbeiter (OPW) das „Triple Win“-Projekt bewirbt. Mach das, sagte er zu ihr. 5.500 philippinische Pflegekräfte bewarben sich in der ersten Runde der Ausschreibung des Projekts. Voraussetzung sind Examen und zwei Jahre Berufserfahrung; wer sich spezialisiert hat, ist im Vorteil – und wer Deutsch kann. Nicolas ist OP-Schwester für Augenheilkunde, Deutsch kann sie nicht. Im September lud die GiZ sie zum Vorstellungsgespräch. 1.350 Bewerber werden in die Datenbank aufgenommen, die OPW hofft, 500 von ihnen nach Deutschland zu schicken. Nicolas ist eine der Auserwählten.
Personalgespräch per Skype
Die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) in Frankfurt bietet die Fachkräfte aus dem Triple-Win-Pool bei Krankenhäusern, Heimen und Pflegediensten an. Arbeitgeber müssen für eine Vermittlung 3.700 Euro bezahlen. Dafür werden sie und die neuen Angestellten von der ZAV in Deutschland betreut, auch der Vorbereitungskurs und der Flug werden damit bezahlt. One way. Es ist „so gedacht, dass die Fachkräfte auf Dauer in Deutschland bleiben“, heißt es bei der GiZ. Eine Strafklausel bei früher Rückkehr gebe es aber nicht.
Im April 2014 bittet die Uniklinik Freiburg um ein Vorstellungsgespräch mit Julie Nicolas. Für die beiden anderen Länder im „Triple Win“-Projekt, Serbien und Bosnien, gibt es eine Schnupperwoche, für die Philippiner nicht. Der Flug ist zu teuer. Im GiZ-Büro in Manila skypt Nicolas 20 Minuten mit zwei Personalerinnen. Sie wollen wissen, warum sie nach Deutschland will. „Ich glaube, ich mag es dort“, sagt sie. Zwei Wochen später bekommt sie einen Anruf von der GiZ. Im Juli kündigt sie im Chinesischen Krankenhaus und schreibt sich auf Kosten der Albert-Ludwigs-Universität bei einer Sprachschule in Manila ein. Im Dezember besteht sie die Prüfung für das Sprachlevel B1.
Nicht einmal aus Filmen hatte Nicolas eine nähere Vorstellung von Deutschland, jetzt sieht sie regelmäßig das Programm der Deutschen Welle. „Es ist ein gutes Land zum Leben“, glaubt sie. Was ihr zu diesem Land einfällt? „Schnee.“ – „Oktoberfest.“ Das Glücksversprechen hat noch keine konkreten Formen angenommen. Sie gehe nicht aus materiellen Gründen, sagt Nicolas. „Ich war immer schon neugierig“, sie wolle mehr lernen, sich weiterbilden. Deutschland erscheint ihr dafür geeignet.
Ein Jahr Zeit für die Anerkennung
Einmal im Monat besucht sie ihre Eltern, die Mutter Hausfrau, der Vater war Arbeiter in einer Papierfabrik. In Zukunft wird das nicht mehr möglich sein. „Aber sie sind glücklich, dass ich gehe. Und es gibt ja Skype.“ Eine Rückkehr plant sie nicht.
Die „Triple Win“-Arbeitgeber müssen sich verpflichten, die Philippiner genauso wie inländische Arbeitnehmer zu behandeln. Nach Anerkennung des ausländischen Examens verdienen sie laut der GiZ 2.300 Euro im Monat. Ein Jahr haben die PflegerInnen in der Regel für die Anerkennung und das Erreichen der Sprachstufe B2. Der Arbeitgeber trägt die Kosten, zieht dafür aber 400 Euro Lohn im Monat ab. Die Verträge seien meist unbefristet – unter der Bedingung, dass die Anerkennung klappt.
Sie habe sich „auch auf dem EU-Markt umgetan“, sagt die Pflegedienstleiterin der Freiburger Uniklinik, Sabine Rohde. Doch Spanier etwa könnten „unter Umständen ganz schnell wieder zurück sein“, wenn sich in der Heimat ein Job anbietet. Bei den Philippinern sei dies eher nicht zu befürchten, zudem seien sie hervorragend ausgebildet, und auch „das Menschenbild ist kompatibel“, sagt Rohde.
Was ist das Solidarprinzip?
Nimfa de Guzman ist Abteilungsleiterin bei der OPW und für den Pflegebereich zuständig. Sie ist die Einzige, die sich heute schick gemacht hat, in einem Kostüm erscheint sie am Mittag im Schulungsraum. Nach der Prüfung wird sie den Pflegekräften ihre Urkunden übergeben. 31 Pflegekräfte sind seit dem Start des Programms nach Deutschland gegangen. „Wir hoffen auf sehr viel mehr“, sagt de Guzman. Dass ihr mehr an Rücküberweisungen als an einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung gelegen sei, weist sie zurück. „Viele Krankenschwestern können hier nicht beschäftigt werden“, sagt sie. Unter den TeilnehmerInnen des Kurses hatten zwar fast alle einen Job, viele jedoch nicht auf den Philippinen, sondern in Saudi-Arabien.
Das Examen am Ende ist Formsache. „Solidarprinzip“ soll Nicolas erklären, es fällt ihr nicht schwer. Kurz darauf überreicht ihr de Guzman eine Urkunde. Zwei Stunden später sitzen alle zusammen im Hotelrestaurant, machen die letzten Selfies. 16 der 25 haben bereits einen Job, die übrigen werden wohl bald einen finden. 400 Aufträge für eine Vermittlung liegen bei der ZAV. Am 29. März wird Nicolas nach Deutschland reisen. Außer ihr werden noch acht weitere Philippinerinnen aus ihrem Kurs an der Uniklinik Freiburg arbeiten.
Angst vor Einsamkeit habe sie nicht, sagt sie. „Ich lebe ja hier auch schon lange allein.“ Die Kälte, Fremdenfeindschaft? Nein, Sorgen bereite ihr nur die Sprache, „vor allem der Dialekt, den gibt es in Freiburg, oder?“
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