Petition der Woche: Kinder, besser nicht krank werden
Im Landkreis Kleve brauchen Kinder gute Abwehrkräfte. Denn es gibt dort zu wenige Kinderärzte. Engagierte Mütter wollen das nun ändern.
Das Kind ist krank, es braucht einen Arzt, doch die Eltern werden von jeder Praxis an die nächste verwiesen. In Kleve, einem Landkreis an der Grenze zu den Niederlanden in Nordrhein-Westfalen, ist das keine Seltenheit. Es drohe ein Versorgungsnotstand, urteilen betroffene Mütter. In ihrer Online-Petition heißt es: „Kinderärzte auf dem Land sterben aus und das muss gestoppt werden.“
Gestartet wurde die Petition von 14 Müttern, die sich schon seit mehr als zwei Jahren mit einer Elterninitiative für mehr Kinderärzte in ihrer Region stark machen. Eine von Ihnen ist Nicole Tenbrink. Sie weiß von dramatischen Fällen: „Zwei Mütter haben über ein ganzes Jahr keinen Kinderarzt für ihre schwerkranken Kinder gefunden.“ Online tauschen sich die Eltern über die Situation in den Arztpraxen aus. „Aufgenommen werden oft nur Neugeborene. Andere erhalten vielleicht mal einen Termin, danach müssen sie sich aber eine neue Praxis suchen“, sagt Tenbrink.
Bekräftigt wird die Kritik durch eine „Evaluation der Bedarfsplanung“ der Elterninitiative. Darin wurden 20 Kinderarztpraxen im Kreis Kleve nach einem Termin gefragt, bei 14 war die Antwort: Aufnahmestopp, bitte versuchen sie es woanders. Lediglich vier Praxen ermöglichten einen Termin binnen sieben Tagen. Zum Vergleich wurden auch 21 Kinderärzte in Düsseldorf angerufen. Elf von ihnen vereinbarten einen Termin in den nächsten sieben Tagen, ein Aufnahmestopp wurde bei keiner Praxis festgestellt.
Das Paradoxe: Aus Sicht der Kassenärztlichen Vereinigung und der Krankenkassen sind sowohl Kleve als auch Düsseldorf mit Kinderärzten überversorgt. Der Versorgungsstand wird mit jeweils gut 120 % beziffert. Die Prozentzahl ergibt sich aus einem Vergleich der tatsächlichen Ärzteversorgung mit dem gewünschten Versorgungsstand. Sowohl in Kleve als auch in Düsseldorf soll die Versorgung mit Kinderärzten also sogar noch gut 20 % besser sein als erwünscht. Die Realität in den Arztpraxen zeichnet aberein deutlich anderes Bild. Wie kann es dazu kommen?
Entscheidend sind sogenannte Verhältniszahlen. Diese bestimmen die gewünschte Relation von Ärzten und Patienten in einer Region. Vereinfacht gibt diese Zahl an, um wie viele Patienten aus seiner Region sich ein Arzt kümmern soll. Für Kinderärzte in Düsseldorf liegt die Verhältniszahl bei 2.398, für den Kreis Kleve aber bei 3.857, also gut 60 % höher. So kann es dann dazu kommen, dass ein unterschiedliches Verhältnis von Ärzten und Patienten in zwei Regionen trotzdem mit dem gleichen Versorgungsstand bewertet wird. Denn die Soll-Werte sind unterschiedlich.
Diskriminierung der Provinz
Doch wer bestimmt, wie das Verhältnis von Patienten und Ärzten sein soll, woher kommen die Verhältniszahlen? Verantwortlich dafür ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das höchste Gremium der Selbstverwaltung im Deutschen Gesundheitswesen. Der G-BA hat die Regionen in Deutschland in fünf Kategorien unterteilt. Typ 1 steht für eine Großstadt und hat eine niedrige Verhältniszahl, bei einer ländlichen Region – Typ 5 – ist sie hoch. Hier müssen sich Ärzte um viele Patienten aus ihrer Region kümmern.
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Die Logik des G-BA: In Großstädten versorgen Ärzte auch Patienten aus dem Umland, auf dem Lande behandeln Ärzte hingegen nur die Menschen aus ihrer eigenen Region. So werden die stark variierenden Verhältniszahlen begründet. Sie sind der Ausgangspunkt für die regionale Bedarfsplanung und diese entscheidet darüber, ob überhaupt neue Arztpraxen eröffnet werden dürfen. In Kleve liegt der Versorgungsstand bei gut 120 %, erst ab der Marke von 110 % dürfen neue Praxen entstehen.
Für Nicole Tenbrink und ihre Mitstreiterinnen gibt es bereits Grund zur Hoffnung, denn der G-BA will die Verhältniszahlen zum Januar 2019 tatsächlich aktualisieren. Es sei ein Gutachten in Auftrag gegeben worden, man wolle dem Ergebnis aber nicht vorgreifen, erklärt Josef Hecken, Vorsitzender des Gremiums. An der Unterteilung der Republik in fünf Kategorien wird aber wohl nicht gerüttelt. Die Diskriminierung der Provinz wird somit fortgeschrieben, die Kritik der engagierten Mütter aus Kleve bleibt aktuell.
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