: Peter Glotz wollte kein „everybody's A...“ sein
■ In seinem politischen Tagebuch versucht der ehemalige SPD-Politiker der Politikverdrossenheit auf die Spur zu kommen, erklärt aber nur seine eigene
Bilanz eines deutschen Politikerlebens: „1970, als ich das erste Mal in ein Parlament gewählt wurde, war Abgeordneter noch ein richtig reputierlicher Beruf. Heute ist ein Berufspolitiker everybody‘s A...“. Der Berufspolitiker Peter Glotz will nicht mehr „everybody‘s A...“ sein, er hat seine Koffer gepackt. Kein Eklat und keine Enthüllung, keine Niederlage und keine Erniedrigung haben ihn dazu veranlaßt. „Es wurde Zeit“, lautet lakonisch das persönliche Resümee eines langen, in insgesamt drei Tagebüchern reflektierten Niedergangs seiner, der politischen Klasse. Erbarmen mit diesen Politikern erflehte Enzensberger schon vor Jahren. Glotz wird es nun zuteil.
Was lange gärt wird endlich Wut, lassen sich die möglichen Beweggründe des Karrierebruchs des Bundestagsabgeordneten, Bücherschreibers und Bildungsbürgers spontihaft verklaren. Doch Glotz ist kein Sponti, ja noch nicht einmal spontan, er ist ein Sozialdemokrat der Vogel-Variante, einer, der sich selbst „die Charge des ein wenig zynischen Realisten“ zuschreibt. Die Zeiten, in denen er Wut verspürte, müssen schon lange vorbei sein, sein jüngstes Tagebuch widmet er deren Altersvariante: dem Verdruß. Und das ganz Glotz-like mit Anspruch. „Die Jahre der Verdrossenheit“, wollen „den grauenvollen Begriff der ,Politikverdrossenheit‘ aufdröseln.“ Er selbst habe die „Verachtung der Apparate“, aus der jene Verdrossenheit fließt, immer bekämpft, bekundet der Autor gleich auf der ersten Seite.
Wer allerdings 372 Seiten lang diesen Kampf verfolgt, kommt zu dem Schluß: Hier kämpft einer gegen sich selbst. Die Verachtung der Apparate, gegen die er sich wendet, der Verdruß des Volkes an der Politik, unter der er leidet – er teilt sie. Er teilt sie mal mit Ironie, wenn ihm eine Podiumsdiskussion über Politikverdrossenheit unversehens zu einem gemeinsamen „Rollenspiel“ mit der guten Hirtin Antje Vollmer, dem nachdenklichen Fortschrittler Friedberg Pflüger und der Frau mit dem Albertz-Effekt, Hildegard Hamm-Brücher, gerät. Er teilt sie mal mit Verachtung, und das vornehmlich wenn sein Blick auf die Bonner SPD fällt: „Lafontaine in der Fraktion. Er hört sich brav 20 Wortmeldungen an. Einige Kollegen ,geigen‘ ihm die Meinung; sie balzen vor ihrer Klientel. Oskar Pokerface.“
Politik als Kasperle-Theater, doch wer läßt die Puppen tanzen?: „23. Januar 1993: Parteivorstand in Frankfurt. Belanglos, verstritten, ergebnislos. Die Präsidiumsmitglieder nehmen sich bissig an. Schröder, Voscherau, Dreßler gegen Lafontaine.“ Wer angesichts solcher Veranstaltungen gegen Politikverdruß ankämpfen will, müßte den Sinn hinter dem scheinbar sinnlosen Streit aufspüren. Diesen Gefallen tut Glotz dem Leser nicht. Die Sentenzen über die Bonner SPD sind spärlich gestreut, Erkenntnisgewinn kaum möglich. Weniger ein Akt der Fürsorge mit der Partei als vielmehr des Selbstschutzes desjenigen, der in der Distanz seine Unversehrtheit sucht. Die Bonner SPD, macht Glotz glauben, hat genau den Stellenwert, den das Tagebuch ihr einräumt. Und der rangiert hinter der bayerischen gar der Münchner SPD, in deren Verästelungen und Vereinsmeiereien er mit einer Liebe zum Detail und zur Person einführt, die verdrießende Mühe bereitet. Er läßt uns teilhaben an der Unterbezirkskonferenz Rosenheim-Süd, setzt uns neben „Freund Eger“ ins „Hart-Eck“ – und so weiter.
Atemlos grönemeyert das Multitalent durch Parteileben und Presselandschaft („Erfolgreicher Hamburg-Tag. Aufträge des Spiegel, der Zeit, der Woche.“), ist heute noch beim Weizenbier im „Matthäser“, morgen zum Aperitif auf San Franciscos „Top of the Mark“. Ihn elektrisiert „das Klima“ im Valley, ihn faszinieren die amerikanische Biotop-Mischung und Cross-over-Effekte, die in der deutschen und europäischen Unternehmenskultur nicht gedeihen. „Wir haben das Gesetz des First Mover Advantages nicht begriffen“, lautet eine seiner Erkenntnisse.
Die Langsamkeit der sozialdemokratischen Lernprozesse, das ist Glotz' Verdruß. „Wenn es dich langweilt, fünfzigmal dasselbe zu sagen, dann werde nie und nimmer Politiker“, hatte ihm Helmut Schmidt bei seiner ersten Kandidatur für den Bundestag geraten. Glotz ist einer, den schon verdrießt, zweimal dieselbe Sache sagen zu müssen. Er ist kein Gäuboden-Demosthenes, die Masse ist nicht sein Metier. Er entrinnt ihr in die spätabendliche Lektüre eines Doderer oder Benn. An den Rand der Verse: „Bald / ein abgesägter, überholter / früh oder auch spät verstorbener Mann / von dem man spricht wie von einer Sängerin / mit ausgesungenem Sopran ...“ habe er im Juni 1987 den eigenen Namen gekliert. „Da hatten sie mich gerade aus der Baracke gejagt.“ Nun hat er freiwillig seine Ämter aufgegeben. Er mag dieses Datum neben einem anderen Vers des „Heiligen Gottfried“ schreiben: „nicht sagen Wiederkehr / nicht denken halb und halb / Maulwurfhügel freigeben / wenn Zwerge sich vergrößern wollen.“ Dieter Rulff
Peter Glotz: „Die Jahre der Verdrossenheit. Politisches Tagebuch 1993/1994“. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1996, 375 Seiten, 37 DM
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