Personelle Aufrüstung in Schweden: Den Ernstfall vor Augen
In Schweden wird darüber diskutiert, dass das Land auf einen Kriegsfall vorbereitet sein müsse. Der Nato-Beitritt steht bevor.
Und Victor Orbàn hatte angesichts der türkischen Vorwärtsbewegung ja ebenfalls in dieser Woche mitgeteilt, dass auch Ungarn bald so weit sein werde. Das Timing passt, nach mehr als anderthalb Jahren des Hinhaltens, nun seltsam gut: In Schweden war der Januar 2024 geprägt von emotional geführten Debatten über Kriegsgefahr, Verteidigungsbereitschaft und die Notwendigkeit von batteriebetriebenen Radios.
Den Anfang hatte zum Jahreswechsel schon die Frage um steigende Wehrpflicht-Quoten gemacht – was passiert, wenn nicht so viele junge Leute zur Armee wollen, wie die Pläne es vorsehen? Kaum hatte man sich noch einmal das Konzept Wehrpflicht vergegenwärtigt, schreckten ein paar Reden auf der jährlichen Sicherheitskonferenz „Folk och Försvar“ die Schweden auf. Es klang am ersten Januarwochenende plötzlich so, als rechne die Regierung quasi jederzeit mit einem Angriff aus Russland.
„Ein bewaffneter Angriff auf Schweden kann nicht ausgeschlossen werden. Der Krieg kann kommen – auch zu uns“, sagte Verteidigungsminister Pål Jonson („Die Moderaten“). Mit der drohenden Gefahr durch Russland erklärte er nicht nur die fortgesetzte Unterstützung der Ukraine, sondern auch die Absicht, Schweden verteidigungsfähiger zu machen.
Geografisch vage
Bis hierher kennt man es so ähnlich aus Deutschland – erst im Oktober hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) mit dieser Art Aussage aufhorchen lassen, allerdings beließ er es geografisch vager bei „Europa“.
Und in Schweden war das auch noch längst nicht alles. Der Minister für Zivilverteidigung, Carl-Oskar Bohlin (ebenfalls „Die Moderaten“) machte aus der politischen Weltlage im Handumdrehen ein persönliches Problem für jeden: „Wer bist du, wenn der Krieg kommt?“ – diese Frage müssten alle Menschen in Schweden für sich beantworten können, forderte er.
Das Bewusstsein dafür, wie ernst die Situation sei, müsse bei jedem einzelnen wachsen, und daraus müssten praktische Konsequenzen entstehen, so Bohlin weiter: Kommunen müssten sicherstellen, dass eine Notfallversorgung im Krieg funktionieren würde, Angestellte sollten ihre Arbeitgeber fragen, wo sie im Kriegsfall gebraucht würden, Privatpersonen sollen sich fragen, wo sie am nützlichsten sein könnten. Noch sei Zeit dafür, meinte Bohlin – doch dass die Vorbereitung auf den Ernstfall nicht schnell genug gehen könnte, sei eine Sorge, die ihn nachts wach halte.
Er wurde für seinen alarmistischen Ton kritisiert, unter anderem vom früheren sozialdemokratischen Justiz- und Innenminister Morgan Johansson. Der sagte im schwedischen Fernsehsender SVT, diese Art Tonfall spare man sich üblicherweise für Situationen auf, in denen ein Krieg direkt vor der Tür stehe. Bohlin reagierte leicht beschwichtigend: Er habe nicht gemeint, die Schweden sollten nachts vor Sorge wachliegen, sondern sich der Ernsthaftigkeit der Lage bewusst werden.
Auf alles vorbereitet
Schwedens Oberbefehlshaber Micael Bydén legte dann allerdings nochmal nach: Er forderte ebenfalls bei SVT, die ganze schwedische Gesellschaft müsse auf alles vorbereitet sein. Die kritische Infrastruktur müsste im Kriegsfall am Laufen gehalten werden, und wer nicht direkt im Krieg eingesetzt werde, müsse auch als Zivilist etwas beitragen.
Danach wurde in Schweden heiß diskutiert, wie dramatisch die Lage tatsächlich und wie mit der Aufregung umzugehen sei. Infrage gestellt wurde die Notwendigkeit der Warnungen nicht nur von Politikern: Der Kommentator der liberalen schwedischen Zeitung Dagens Nyheter meinte, er höre aus den Aussagen des Oberbefehlshabers eine heimliche Sehnsucht heraus, endlich die Kriegstauglichkeit der eigenen Armee ausprobieren zu können.
Möglicherweise unerwartet kam eine ähnliche These dann aus Russland, wo der Parlamentarier Alexej Puschkow auf Telegramm Schwedens „Paranoia“ in Bezug auf Russland verhöhnte und die Vermutung anstellte, dass das schwedische Militär und einige Journalisten „fast vom Krieg träumten.“
Doch nun waren die Warnungen in der Welt, begleitet von Nachrichten wie etwa der, dass Minister Bohlin die Zivilschutzbehörde MSB beauftragt habe, einen Plan zur Unterstützung ziviler Behörden zu entwickeln, die sich auf Kriegsorganisation umstellen müssen.
Landesverteidigung als Pflicht
Auch soll die sogenannte Zivilpflicht wieder eingeführt werden. Seit 2008 war für diesen Teil der Verteidigungsbereitschaft niemand mehr ausgebildet worden. Zu Beginn soll der Rettungsdienst gestärkt werden.
Hier sollen zunächst Menschen ausfindig gemacht werden, die eine Ausbildung beim Rettungsdienst gemacht haben, aber nicht mehr in dem Bereich arbeiten, wie es die Generaldirektorin der Nationalen Rekrutierungsbehörde Plikt- och Prövningsverket, Christina Malm, sagte. In Schweden gilt: Alle von 16 bis 70 Jahren können im Kriegsfall zur Teilnahme an der Landesverteidigung verpflichtet werden – ob direkt in der Armee oder an ihrem Wohnort.
Dass künftig wieder mehr junge Menschen zur militärischen Grundausbildung eingezogen werden sollen, um die Verteidigungsfähigkeit der Armee zu erhöhen, wurde schon vor vier Jahren beschlossen, kurz nach Wiedereinführung der Wehrpflicht.
Noch sind es nur 5000 bis 6000 pro Jahr, die Zahl soll fünfstellig werden. Zur Frage, was passiere, wenn man nicht genügend militär-begeisterte junge Leute finde, zeigte sich Christina Malm ungerührt: Man könne nicht mehr nur nach der Motivation und dem Interesse einzelner Menschen gehen, sagte sie der Nachrichtenagentur TT. Das Militär habe Vorrang vor persönlichen Interessen. Sie erinnerte nochmal an das Prinzip Wehrpflicht: „Man soll nicht glauben, dass das freiwillig ist. So ist es nicht“.
Seit zig Generationen
Die Besonderheit: Schweden hält den Weltrekord in der historischen Disziplin „Zeit, die seit der letzten kriegerischen Auseinandersetzung vergangen ist“. Die Gewissheit, dass Krieg Schweden höchstens indirekt betrifft, gehört quasi seit zig Generationen zur Kultur. Umso schwerer wiegen die jüngsten Warnungen: Kann es wirklich sein, dass Krieg droht, zum ersten Mal seit 1814?
Die Entscheidung, nach dem Beginn der russischen Angriffe auf die Ukraine im Februar 2022 die lang gehegte und geliebte Neutralität aufzugeben und sich auch offiziell dem Westen, also der Nato anzuschließen, hat gezeigt, dass die Zeiten sich geändert haben.
Der damalige sozialdemokratische Verteidigungsminister Peter Hultqvist erklärte seine Abkehr von einem traditionellen Nein zu Schweden in der Nato damit, es gebe eben eine Zeit vor und eine Zeit nach dem 24. Februar.
Noch während Schweden auf das Ende der Beitritts-Blockaden durch die Türkei und Ungarn wartete, wurde schon mit den USA bilateral über eine engere militärische Verbindung verhandelt – inzwischen unter der bürgerlich-konservativen Regierung von Ministerpräsident Ulf Kristersson („Die Moderaten“).
Abkommen mit den USA
Das Abkommen, der Defence Cooperation Agreement (DCA), regelt für den Krisenfall den Zugang zu 17 militärischen Einrichtungen in Schweden für die US-Armee. Nicht als dauerhafte Stützpunkte, aber Operationen von dort aus sollen für die USA im Krisenfall vereinfacht werden. Ein solches Abkommen haben auch Finnland, Norwegen und Dänemark mit den USA geschlossen.
Dass die Menschen in Schweden den Ukraine-Krieg und seine internationalen Implikationen vielleicht nicht mehr richtig auf dem Schirm hatten und die Regierung sie nur einmal daran erinnern wollte, galt im Januar als wahrscheinliche Erklärung für die warnenden Töne des Kabinetts und Militärs.
Da hatte aber längst eine Rekordzahl von Schweden die Broschüre „Wenn die Krise oder der Krieg kommt“ von der Website der Zivilschutzbehörde heruntergeladen. Im Radio erklärten Experten, was der Unterschied zwischen Vorrat anlegen und Hamstern sei.
Lokalzeitungen hakten vor Ort nach: Ist es nicht falsch, dass in diesem militärisch genutzten Gebäude auch Büros an den örtlichen ambulanten Pflegedienst vermietet werden? Sind militärische Gebäude nicht legitime Angriffsziele? In den sozialen Medien kursierten zugleich satirische Videos über übertriebenes Preppen.
Mehr Sicherheit, mehr Verantwortung
Jetzt, nachdem auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg davon ausgeht, dass Ungarns Parlament bei seiner nächsten planmäßigen Sitzung im Februar als letztes Nato-Mitglied Schwedens Beitritt ratifiziert, widmen sich Medien in Schweden der Frage, was der Beitritt bedeuten werde.
Die zusammen gefasste Botschaft des Senders SVT lautet: Mehr Sicherheit, aber auch mehr Verantwortung. Es dürfte etwas Zeit brauchen, bis die Nato die neuen Mitglieder Finnland und Schweden in ihre Verteidigungsstrategie integriert haben werde. Aber ans Warten ist zumindest Schweden ja inzwischen gewöhnt.
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