Personalmangel bei der Justiz: Vorzeitige U-Haft-Entlassungen
Immer wieder werden Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen, weil die Verfahren zu lange dauern. Die Strafkammern sind überlastet.
Mindestens 66 Tatverdächtige wurden 2021 bundesweit aus der Untersuchungshaft entlassen, allein in Schleswig-Holstein waren es elf. In fast allen Fällen begründeten die Gerichte den Schritt damit, dass die Verfahren nicht schnell genug vorankamen. Was banal klingt, hat einen ernsten Hintergrund: „Die Strafkammern sind tatsächlich überlastet“, sagt Christine Schmehl vom Schleswig-Holsteinischen Richterverband. „Der Justiz fehlt in erheblichem Umfang Personal.“ Der Deutsche Richterbund (DRB) sieht deswegen die Justizministerien der Länder in der Pflicht und fordert generell mehr Stellen.
Doch die sehen die Gründe teilweise bei den Strafkammern selbst. Diesen „obliegt die gerichtsinterne Geschäfts- und Personalverteilung“, wie Oliver Breuer vom Justizministerium Schleswig-Holstein sagt. Fakt ist: Die letzte bundesweite Berechnung des Personalbedarfs in der Justiz stammt aus dem Jahr 2014. Seither hat sich viel geändert – sowohl an der Anzahl der Verfahren als auch an deren Komplexität. Das bestätigt auch Breuer: „Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass infolge einer Vielzahl von Gesetzesänderungen seit 2014 der tatsächliche Zeitaufwand im Strafverfahren nicht mehr adäquat abgebildet wird.“
In Deutschland gelten strenge Richtlinien für eine vorläufige Inhaftierung von Tatverdächtigen. Die Untersuchungshaft darf in der Regel nicht länger als sechs Monate andauern. Nur in dringenden Fällen können Gerichte eine Verlängerung der U-Haft bewirken. Wenn die eingeleiteten Verfahren nicht schnell genug in eine Hauptverhandlung führen, müssen die Verdächtigen wieder entlassen werden: Die Freiheit der Person als Grundrecht steht dann über dem Tatverdacht. Dass Gerichte schnellstmöglich arbeiten und eine Verhandlung eröffnen müssen, gibt das Beschleunigungsgebot in Haftsachen vor, das in der Strafprozessordnung verankert ist.
Die Gründe für die verzögerten Verfahren sind vielschichtig. Die Berechnung des Personalbedarfs stimme nicht mehr, sagt Schmehl. „Der Aufwand für die großen Strafverfahren an den Landgerichten ist enorm gestiegen.“ Das liege unter anderem daran, dass es viel mehr digitalisierte Beweismittel gebe, die ausgewertet werden müssten. Darunter fallen zum Beispiel auch Whatsapp-Nachrichten. Erschwerend sei laut Schmehl, dass es heute vermehrt Verfahren mit Auslandsbezug oder komplizierten Sachverhalten gebe. „Das führt dazu, dass der zeitliche Aufwand größer wird.“ Seit 2014 sei dieser bei großen Strafverfahren um rund 50 Prozent gestiegen.
Arbeit am Limit
Auch in Bremen arbeiten die Landgerichte „seit Jahren am Limit“, wie der dortige Richterbund mitteilt. Personal sei bereits aus anderen Bereichen herangezogen worden, die Überlastung bleibe aber erheblich hoch. Es brauche „angesichts erheblicher Personalprobleme und großer Digitalisierungsaufgaben ein umfangreiches Investitionspaket für die Justiz“, erklärt Sven Rebehn vom Deutschen Richterbund.
Den Personalmangel sieht mittlerweile auch die politische Seite ein. Die schleswig-holsteinische Justizministerin Kerstin von der Decken (CDU)verweist dazu auf den aktuellen Koalitionsvertrag, der „eine hundertprozentige Abdeckung nach dem bundesweiten Personalbedarfssystem sowie weitere Verstärkungen“ vorsieht.
Dieser Bedarf sei in Bremen beispielsweise schon abgedeckt, wie die dortige Senatorin Claudia Schilling (SPD) sagt. Die Personalabdeckungsquote liege dort bei 124 Prozent und damit deutlich über dem Bedarf. Dennoch wolle man auch zukünftig auf den gestiegenen juristischen Aufwand reagieren.
Beim aktuellen Fall der drei entlassenen Tatverdächtigen sieht Schilling jedoch kein Personalproblem, sondern verweist auf die komplizierte Beweis- und Rechtslage. Außerdem sei die derzeitige Überlastung auf die Verteilung der Verfahren auf die einzelnen Kammern zurückzuführen, die das Landgericht selbst im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit vornimmt. Die Ursache liegt laut Schilling also in der Organisation der Justiz.
Dass es in beiden Bundesländern aufgrund langer Verfahren überhaupt zu Entlassungen aus der Untersuchungshaft kam, ist ein Problem. Doch dabei bleibt es in machen Fällen nicht: „Erschwerend wirkt, dass tatsächlich ein aus der U-Haft Entlassener geflüchtet ist und ein anderer erneut eine Straftat begangen hat“, wie Marc Timmer zur Situation in Schleswig-Holstein sagt. Der justizpolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion hatte die Bekanntgabe der Zahlen erst durch eine Kleine Anfrage an die Landesregierung erwirkt.
Langer Freiheitsentzug
Aber gerade, wenn die Vorwürfe gegen Tatverdächtige nach der Entlassung fallen gelassen werden, ist die lange Untersuchungshaft ein Problem. Eine sechsmonatige U-Haft bedeutet vor allem eines: Freiheitsentzug. Falls es gegenüber den Tatverdächtigen später nicht zu einer Verhandlung kommt, haben diese Anspruch auf Entschädigung. Der entsprechende Umfang wurde vom Bundestag erst 2020 erhöht. Seither haben zu Unrecht inhaftierte Personen Anspruch auf 75 Euro pro Tag. Dies betreffe bundesweit pro Jahr etwa 400 Personen, erklärte der SPD-Abgeordnete Johannes Fechner 2020 im Bundestag. Dazu kämen auch immaterielle Folgen: „Ein Bürger, der inhaftiert wird, wird aus seinem Umfeld herausgerissen und ist durch die gerichtliche Entscheidung stigmatisiert.“
All dies wirft kein gutes Licht auf die Justiz. „Die Frage, ob ein Untersuchungsgefangener weiter in Haft bleibt oder nicht, darf nicht davon abhängen, dass nicht genügend Richter und Staatsanwälte zur Verfügung stehen“, erklärt Andreas Helberg vom Bremischen Richterbund. Auch für die Sicherheit der Bevölkerung sei es unerlässlich, mehr Stellen zu schaffen, sagt Marc Timmer. Der Deutsche Richterbund sieht durch die Vorkommnisse vor allem die Gefahr eines „Vertrauensverlustes in die Funktionsfähigkeit der Justiz“ und fordert deshalb schnelles Handeln der Politik.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz