Pastor Götz (95) über Gestern und Heute: „Ich pflege meine Sprachen“
Rudolf Götz ist 95, arbeitet immer noch als Pastor in Fürstenwalde. Er liest die Bibel täglich in vier Sprachen. Ein Gespräch über Gott und die Welt.
taz: Herr Götz, Sie haben vor drei Wochen Ihre Abschlusspredigt gehalten. War es wirklich die letzte?
Rudolf Götz: Offiziell schon (lacht). Aber nach meiner Predigt kam gleich der Gemeindeleiter und sagte: Aber Herr Pastor, wenn wir in Not sind? Ich sagte, na ja, dann will ich nicht so sein. Wissen Sie, auch Pastoren werden mal krank.
Und Sie vertreten sie dann?
Ich könnte ja sagen: Pfeif drauf, ich bin Rentner. Aber soll ich hier faul herumsitzen?
Also hören Sie nicht auf zu arbeiten?
Bis zum Krieg Rudolf Götz wurde 1926 in Wolhynien geboren, das heute zur Ukraine gehört. 1943 wurde er zum Krieg eingezogen, 1945 kam er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. 1946 kehrte er zu seinen Eltern zurück, die inzwischen im Wartheland in Polen angesiedelt worden und dann nach Oberthau in der Nähe von Leipzig geflüchtet waren.
Nach dem Krieg 1950 bis 1955 studierte Rudolf Götz an der Theologischen Hochschule Friedensau in Trägerschaft der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten Theologie. Danach arbeitete er in Erfurt, Arnstadt, Neuruppin, Finsterwalde und Fürstenwalde als Pastor.
Nach der Wende hätte Rudolf Götz eigentlich in Rente gehen können, begann aber stattdessen, in einem Asylheim zu arbeiten, und fuhr mehrmals nach Russland, um dort bei Spendenaktionen zu helfen. Auch in seiner Gemeinde ist er bis heute ein gefragter Mann. (sm)
Ich bin lieber in Bewegung und roste nicht. Ich muss kreativ sein, am Schreibtisch sitzen. Ich lese zum Beispiel täglich in meinen Bibeln. Ich will Ihnen mal zeigen, was wir lernen mussten. (Holt zwei Bibeln vom Couchtisch.) Schauen Sie mal: Hier auf der rechten Seite, das ist das Altgriechische, und links ist das Lateinische. Da kann ich immer vergleichen. Und in der anderen Bibel habe ich rechts den russischen und links den englischen Text. Ich pflege meine Sprachen.
Brauchen Sie diese Sprachen noch?
Wenn ich die Predigt vorbereite, dann lese ich zunächst den altgriechischen Text, denn in dieser Sprache ist das Neue Testament geschrieben worden. Eine meiner letzten Predigten trug die Überschrift: Ich bin so unglücklich, was kann ich tun? Das altgriechische Wort für Glück bedeutet auch Zufriedenheit, dass man sich wohlfühlt, lachen kann und die ganze Welt umarmen möchte. Das ist alles in diesem einen Wort enthalten. Die Deutsche Sprache gibt das gar nicht so her.
Ist es schwer, eine Predigt zu schreiben?
Es ist ganz unterschiedlich. Die Überschrift einer anderen Predigt lautete mal: Ich habe deine Tränen gesehen. Gott schickt den Propheten Jesaja zum israelischen König Hiskia und sagt ihm, dass er sterben wird. Hiskia wendet sein Angesicht zur Wand und weint bitterlich – Gott sieht das und sagt ihm: Ich schenke dir noch 15 Jahre Lebenszeit, weil ich deine Tränen gesehen habe. Meine Predigt handelte davon, dass jeder Mensch weint. Im altgriechischen Wort für weinen schwingt mit, dass beim Weinen alles beteiligt ist: Herz, Lunge, alle Organe, Muskeln, alles. Na ja. Jedenfalls war ich mit dieser Predigt in einer Stunde fertig. Wenn mich ein Text ergreift, ja dann geht das schnell. Aber manchmal habe ich mich auch schwergetan mit Themen. Jede Predigt braucht eine Linie, einen Grundgedanken. Und: je einfacher, desto besser. Keine hohen Worte.
Hätten Sie in letzter Zeit beispielsweise über Afghanistan gepredigt?
Ja. Ich hätte über Hilfsbereitschaft gesprochen. Zur Zeit der DDR musste ich oft vorsichtig sein. Unsere Kinder hatten gute Noten, aber die beiden Söhne durften nicht zur Erweiterten Oberschule, weil sie nicht in der FDJ waren. Das habe ich denen oft bei der Predigt aufs Brot geschmiert. Darum gibt es auch eine Akte über mich.
Haben Sie die gelesen?
Ja, das war eigenartig (lacht). Die wussten alles.
Sie sind ja bei einer Freikirche, bei den Siebenten-Tags-Adventisten. Gibt es da eigentlich große Unterschiede zu den Volkskirchen?
Kaum. Wir halten den Samstag heilig, aber das sind Äußerlichkeiten. Wie bei den anderen steht bei uns Christus im Mittelpunkt.
Waren Sie vor der Wende am kirchlichen Widerstand beteiligt?
Ja, ich habe friedlich gestreikt. Tausende waren auf der Straße, und die Pastoren immer vorneweg. Aber als die jungen Leute Fenster einschmeißen wollten, haben wir das nicht zugelassen. Wenn man Kerzen in der Hand hat, kann man keine Steine werfen.
Haben Sie als Pastor auch mit Geflüchteten gearbeitet?
Wir sind alle Flüchtlinge auf dieser Erde. Es gab so viele Kriege und Verpflanzungen. Nach dem Mauerfall habe ich in einem Asylheim als Dolmetscher gearbeitet. Ich hatte dort auch Ärger, manchmal wollten sie mich sogar verhauen, aber ich habe immer alle gut behandelt. Menschen aus 33 Nationen, das hat meinen Horizont erweitert.
Sicher war es hilfreich, dass Sie viele Sprachen sprechen?
Ich hatte beim Studium das Englische liegen gelassen und dann viel vergessen. Also musste ich mich mit 56 Jahren noch mal auf den Hosenboden setzen und am Abend an der Hochschule das Englisch-Abitur machen. Wir haben aber auch viele Russendeutsche in den Gemeinden. (Das Telefon klingelt, Rudolf Götz entschuldigt sich kurz.)
Sie bekommen wohl noch viele Anrufe aus Ihrer Gemeinde?
Ja, sie rufen alle an, vor allem die Russendeutschen. Pastor Götz, können Sie mir helfen? Pastor Götz, wir haben Probleme! Pastor Götz, können wir zu Ihnen kommen? Ja, und dann sitze ich hier mit ihnen (lacht).
Wie kam es denn dazu, dass Sie so gut Russisch können?
Wir hatten während des Studiums einen tollen Dozenten. Er hat uns ein gutes Fundament gelegt. (Er beginnt, ein Verb auf Russisch zu deklinieren.) Später habe ich bewusst versucht, die Sprache weiterzuentwickeln. Und hier, in der DDR, waren ja so viele russische Soldaten. Manchmal habe ich sie zu uns nach Hause eingeladen. Wenn ich in einem Geschäft war und Soldaten getroffen habe, habe ich sofort meine Hilfe angeboten. Einmal um zu lernen, und zweitens, um Menschlichkeit zu zeigen. Hier ging es auch im Werte. Sie konnten ja nichts dafür, dass sie als Soldaten hier waren.Wissen Sie, ich war ja auch als junger Soldat allein in Frankreich.
Möchten Sie von dieser Zeit auch ein wenig erzählen?
Wissen Sie, meine Dame: Ich möchte nicht im Mittelpunkt stehen. Aber ich höre immer wieder Menschen sagen, meine Generation sterbe aus. Das macht mir Mut zu erzählen.
Vielleicht fangen Sie einfach am Anfang an?
Gern. Ich bin Bauernkind, Wolhyniendeutscher. Deshalb liebe ich bis heute die Gartenarbeit, baue immer noch selbst meine Tomaten und Kartoffeln an. Meine Großeltern sind aus Süddeutschland nach Wolhynien ausgewandert, also in die heutige Ukraine. Im Ersten Weltkrieg sind die Wolhyniendeutschen nach Sibirien verbannt worden. Meine Familie auch. Meine Großeltern sind in der sibirischen Stadt Orenburg an Hunger gestorben, auch andere Familienmitglieder haben es nicht überlebt. 1920 ist Wolhynien zwischen Polen und Russland aufgeteilt worden. Im polnischen Teil hatten die polnischen Freiheitskämpfer die Landwirtschaften der Wolhyniendeutschen besetzt. Mein Vater, der bei seiner Rückkehr Anfang zwanzig war, musste von vorn beginnen. Als Kinder mussten wir in den Schulen Polnisch lernen. Das war für uns anfangs schwer, aber Kinder lernen schnell und nach zwei Jahren konnten wir so gut sprechen wie die polnischen Kinder.
Können Sie etwa auch noch Polnisch?
Die junge Frau, die mir im Haushalt hilft, bat mich kürzlich, sie in Polen auf Polnisch zu trauen. Da waren 70 Gäste, alle schön gekleidet, in einem herrlichen Park. Ich habe auf Polnisch gepredigt. Und ich wurde verstanden, zumindest haben sie das behauptet. (lacht). Aber ich musste mich natürlich sehr gut vorbereiten.
Glauben Sie, dass Ihr guter Draht zu den Menschen, die aus Russland kamen, auch daher kam? Dass es Parallelen zwischen deren Geschichten und Ihrer Geschichte als Wolhyniendeutscher gibt?
Es ging mir eher darum zu helfen, entgegen zu kommen. Meine eigene Geschichte habe ich längst vergessen. (lächelt verschmitzt)
Sind Sie noch einmal in Wolhynien gewesen?
Ja, und ich wusste noch ganz genau, wo alles gestanden hatte: das Haus, der Stall, die Scheune. Ich war ein Teenager, als wir Wolhynien verlassen und uns rund ums heutige Łódź ansiedeln mussten. Als mein Zwillingsbruder und ich 17 Jahre alt waren, hat der Vater uns dann in die Agrarfachschule geschickt. Und mit 19 bin ich Soldat geworden. 1943 war das. Ja.
Zwei Jahre vor Kriegsende.
Es war ein schrecklicher Krieg. Mein Cousin und ich, wir haben in Marburg an der Lahn eine harte Ausbildung bekommen, immer an den Waffen, an der Vierlingsflak zur Abwehr von Tieffliegern. Dann ging es über Fulda nach Frankreich, zunächst an die spanische Grenze, an den Golf von Biskaya, um Bunker auszubauen. Wir haben in Zelten geschlafen, wir hatten immer Hunger. Wir waren Besatzungsmacht und nicht beliebt, wenn wir mal Ausgang hatten, sagten die Franzosen „Allemand! Boche!“ zu uns. Wir haben ihnen das aber nicht übel genommen, denn natürlich haben sich die deutschen Soldaten überall furchtbar verhalten, haben Dörfer angezündet und Frauen vergewaltigt. Da ist viel Unrecht geschehen. Ich schäme mich als Christ bis heute sehr dafür.
Wie ging es weiter für Sie?
Als die Amerikaner in Frankreich landeten, mussten wir Tag und Nacht bis in die Vogesen marschieren und dann Wochen und Monate im Schützengraben kämpfen. Wir haben jede Minute gedacht, jetzt ist es aus. Ich konnte leider gut schießen, also musste ich einen Lehrgang zum Scharfschützen machen, als Christ! Sie wollten meinen Cousin und mich sogar bei der SS haben. Da sind wir weggelaufen. Das waren brutale Soldaten.
Haben Sie jemanden getötet?
Ich hätte an der Front viele Menschen erschießen können, Sie können mir glauben. Ich hatte ein Schnellfeuergewehr. Einmal hat der Feldwebel einen Schuss durchs Handgelenk bekommen und geschrien: „Götz, schießen Sie!“ Da war eine Wiese vor uns, und da kamen sie ungedeckt. Ich habe geschrien: „Ich schieße ja!“ Aber ich habe immer danebengeschossen. Bei diesem Wirrwarr konnte das niemand sehen. Ich kann mit gutem Wissen sagen, dass ich niemanden bewusst erschossen habe. Allerdings war ich auch kurze Zeit bei den Panzern, da mussten wir auf amerikanische Panzer schießen. Ich hoffe bis heute, dass die Soldaten heil rausgekommen sind.
Haben Sie nie an Gott gezweifelt?
Nie. Wenn die Bomben schwiegen, habe ich immer in der Bibel gelesen. Das hat mich getröstet.
Wie ist der Krieg für Sie ausgegangen?
Mein Cousin ist von einer Granate getroffen worden, er war etwa vier Meter von mir entfernt. Er war gleich tot. Ich habe ein daumenlanges Geschoss in die Wange und einen weiteren Splitter in den Hinterkopf bekommen. Der eine hat den Kiefer verletzt und zwei Zähne weggeschlagen, der andere die Schädeldecke durchschlagen, aber das Gehirn blieb unverletzt. Ich musste ins Lazarett in Bad Nauheim. Im März 1945 kam ich in Kriegsgefangenschaft.
Wohin kamen Sie?
Ich wurde auf die andere Seite des Rheins geschafft. In meinem Lager waren 120.000 gefangene Soldaten, ja, Sie hören richtig. Die meisten hatten keine Zelte und lagen bei Frost und Schnee unter freiem Himmel auf der blanken Erde, Mann an Mann, damit es ein bisschen wärmer war. Und ich war noch nicht ganz gesund, das war schlimm. Nach zwei, drei Tagen hatten wir Läuse, Läuse, Läuse. Am Anfang haben wir vier kleine Konservenbüchsen am Tag bekommen, vielleicht interessiert Sie das, in einer war ein bisschen Ei mit Kartoffeln, wie Kartoffelsalat, so etwas, oder Reis mit Tomaten, Limonadenpulver, das war ja gut, und Bohnenkaffee, aber wir konnten ja nicht kochen, wie denn, dann haben wir das runter gekaut. Nach dem Waffenstillstand haben wir am Tag manchmal vier rohe Kartoffeln bekommen, manchmal drei, und am Abend ein Stückchen schneeweißes Kommissbrot. Und dann mussten zehn Mann ein Stück Teilen. Da ist eine Decke ausgebreitet worden, und dann wurden mit dem Messer Zeichen gemacht, dann war eine Scheibe zu breit und man musste von vorn anfangen, man hat mit Andacht gegessen, kein Krümelchen durfte runter fallen, und wenn, dann hat man es von der Erde aufgehoben. Ich schäme mich zu erzählen, wie egoistisch der Mensch ist, wenn er Hunger hat. Erst im Mai wurden die ersten Gefangenen entlassen. Zuerst waren die Eisenbahner, die Grubenleute und die Landwirte dran, wegen der Infrastruktur.
Und weil Sie, bevor Sie in den Krieg mussten, Landwirt waren, sind Sie relativ bald freigekommen?
Ja, und zwar ist da immer am Abend durch die Lautsprecher aufgerufen worden. Und da hörte ich eines Tages im Juli meinen Namen. „Grenadier Rudolf Götz, morgen zur Baracke soundso.“ Das war eine große Freude. Ein Tag des Glücks.
Was passierte dann?
Ich musste vor Ort ein Jahr lang in Bad Nauheim in der Landwirtschaft arbeiten.
Wann haben Sie Ihre Familie wiedergefunden?
Ich habe ja nie aufgehört, zu Gottesdiensten zu gehen. Dort hat man sich immer ausgetauscht, über die Flucht, woher man kommt und, und, und. So hatte ich mich mit zwei Krankenschwestern bekannt gemacht. Die kamen dann beim Gottesdienst in ihrem Heimatort mit einer anderen Krankenschwester ins Gespräch. Das war meine Schwester. Meinen Zwillingsbruder, der in den USA in Kriegsgefangenschaft war und nach seiner Rückkehr in Bottrop in der Zeche gearbeitet hat, habe ich durch das Rote Kreuz gefunden. Wir vier Geschwister haben uns immer gut vertragen.
Und Ihre Eltern?
Meine Schwester hatte inzwischen herausbekommen, dass sie mit meiner kleinsten Schwester geflüchtet waren und nach Oberthau bei Schkeuditz gekommen sind. 1946 sind wir zu ihnen gefahren. Und ich habe da zunächst in der Landwirtschaft mitgearbeitet. Aber eines Tages hat uns mal ein Pfarrer besucht und gesagt: Hei, Rudi Götz, ich will dich nach Friedensau schicken. Da ist eine theologische Hochschule der Siebenten-Tags-Adventisten. Da habe ich dann eine Schnupperwoche gemacht und gesehen, wie die Studenten Sprachen und Geschichte lernten. Das hat mich so interessiert! Also habe ich 1950 angefangen, Theologie zu studieren. Da war ich 24 Jahre alt.
Haben Sie auch wegen des Kriegs Theologie studiert?
Wohl weniger, aber vielleicht zum Teil. Ich habe gesehen, wie die Menschen sterben, und das hat mir so weh getan. Aber nein. Das war es nicht nur. Gott und die Welt, das hat mich interessiert. Ich war neugierig. Ich wollte lernen.
War es für einen Landwirt eine Art sozialer Aufstieg, Theologie zu studieren?
Ich hätte als Landwirt in der DDR keine Perspektiven gehabt, denn die Landwirtschaften wurden dann ja alle kollektiviert, die meiner Eltern auch. Aber daran habe ich gar nicht gedacht, als ich mit dem Studium begann.
Hatten Sie ein Stipendium?
Ja, aber das war wenig. Auf dem Campus gab es Landwirtschaft eine große Gärtnerei. Man hat gern Studenten genommen, die schon einen Beruf hatten, mit der Begründung, wer einen Beruf hat, der versteht die Kirchenleute besser. Nun ja, ich war ja ausgebildeter Landwirt und habe in der Gärtnerei gearbeitet. Man musste sehr fleißig sein. Der Tag begann mit dem Wecken um kurz vor sechs und endete um dreiviertel zehn am Abend.
Sie waren sicher begabt?
Ach, das will ich gar nicht sagen (lacht). Viele sind mit den Sprachen nicht zurechtgekommen. Ich habe mich für die Sprachen sehr interessiert, das hat mich wohl gerettet.
Bis wann haben Sie Theologie studiert?
Bis 1955. Und dann habe ich meine erste Stelle in Erfurt bekommen. Eine wunderbare Stadt. Aber kurz zuvor – Sie werden lachen …
… ja?
An unserem Campus haben ja auch junge Damen studiert. Und viele haben sich auch während des Studiums verliebt, sind dann aber auf der Strecke geblieben. Also dachte ich, dass ich mich besser nicht verliebe. Aber dann, als ich nur noch ein halbes Jahr zu studieren hatte, da sah ich ein junges Mädchen und dachte sofort: Oh, ist das ein schickes Mädchen, die gefällt mir! In der Mensa kamen wir ins Plaudern. Und da fragten mich meine Kameraden: Hei Rudi, du bist wohl verliebt? Und ich sage: Ja, ich bin verliebt. Und da sagt mein Freund zu mir, der, der Chef in der Bibliothek war: Ich gebe dir den Schlüssel, dann könnt ihr euch da mal richtig treffen und euch erzählen. Da habe ich mich gut angezogen (lacht). Wir hatten ja als Studenten nicht viel, aber einen Anzug hatte ich doch. Und ich habe ihr einen Brief geschrieben, wann und wo wir uns treffen können. Und ich sitze also in der Bibliothek und schaue aus dem Fenster und denke, sie kommt nicht. Ich bin böse geworden. Aber nach zehn Minuten sehe ich sie über den Hof laufen, schön angezogen. Und so haben wir uns verliebt und sie ist meine Frau geworden. 2014 ist sie gestorben. Ich weine noch immer jeden Tag um sie.
Was hat Ihre Frau in Friedensau gemacht?
Sie wollte Krankenschwester werden, hat das aber aufgegeben. Und wir haben in Erfurt mit wenig angefangen. Die Gehälter der Pastoren in der DDR waren schlecht, gleich welcher Couleur, katholisch, evangelisch, freikirchlich. 289 Ostmark, das war alles. Aber es war auch gut so. Wir haben in der Kirche den Grundsatz, nicht mehr zu verdienen als ein durchschnittlicher Handwerker. Es soll Gerechtigkeit sein. Wir haben also nicht gemurrt – und meine Frau hat als Schneiderin dazuverdient. Wissen Sie, meine Dame, ich bin gegen diese ganze kapitalistische Ausbeutung. Diese Raffgier der Menschen, mich ärgert das! Ich sage immer in meinen Predigten: Schwestern und Brüder, Teilen ist angesagt!
Da haben Sie recht. Wie ging es denn weiter für Sie?
Ich wurde oft versetzt. Von Erfurt acht Jahre nach Sondershausen. Dann ging es sechs Jahre nach Arnstadt. Dann acht Jahre Neuruppin, dann zwölf Jahre Finsterwalde. Und schließlich kamen wir hierher, nach Fürstenwalde.
Sie wurden immer wieder entwurzelt, fast wie Ihre Eltern.
Es war schon schwer, einpacken und auspacken, einpacken und auspacken. Es gab immer Tränen, von uns und auch von den Gemeinden. Und dann die Kinder, die gute Zeugnisse hatten, die hat man dann in den neuen Schulen nicht respektiert, die mussten sich das alles immer wieder neu erobern. Als wir in Fürstenwalde angekommen sind, war ich 64 und kurz davor, in den Ruhestand zu gehen. Da haben wir beschlossen, dieses Haus zu bauen.
Aber Sie sind dann gar nicht in den Ruhestand gegangen?
Offiziell schon. Aber dann kam die Perestroika, und in Russland sind die Kolchosen und Betriebe zusammengebrochen. Die Kirche bekam von der Bundesregierung 3,5 Millionen, um einzukaufen. Und dann haben die Herren gehört, dass ich mit der russischen Sprache befasst war, und haben mich angesprochen: Herr Pastor, würden Sie die erste Spendenaktion übernehmen? Ich war erschrocken, wusste nicht, ob ich das schaffe. Ich habe das alles mit meiner Frau besprochen und bin dann doch nach Moskau geflogen, um alles vorzubereiten. Und dann hat die Kirche große Lastwagen gechartert und mit Lebensmittelpaketen bepackt, in jedem Paket waren zehn Kilogramm, jedes enthielt Mehl, Zucker, Milchpulver, Bohnen, Margarine, Büchsen und alles, was dazu gehört. Die Lastwagen habe ich dann alle in Brest-Litowsk, heute Brest, abgeholt und an verschiedene Orte begleitet. 1991 war das.
Wo haben Sie sie hingebracht?
Zum Beispiel nach Gorki, heute Nischni Nowgorod. Das Rote Kreuz hat uns geholfen, die wussten, wo die armen, kinderreichen Familien sind, die Rentner und Studenten, die zuerst Pakete bekommen sollten. Das war natürlich eine große Hilfe. Und in jener Zeit: Was gab es? Ich bin damals viel in Moskau in den Einkaufsläden herumgelaufen. Kraut. Und Möhren. Es hieß immer: Unsere Supermärkte sind leer gefegt.
Haben Sie auch selbst Pakete verteilt?
Ja. Eines Tages stehe ich am Rande eines Marktplatzes, und da kommt eine alte Frau. Es schneit. Und es ist kalt. Über ihre Schuhe hat sie Strümpfe gezogen, damit sie nicht fällt. Und da spreche ich sie an. Großmutter, wohin? Sie: Ich will ein bisschen Milch und Brot kaufen. So vergrämt, so vergrämt. Ich rufe meinen Leuten zu, sie sollen ein Paket bringen und sage zu ihr, dass der junge Mann es ihr ins Quartier tragen wird. Sie ruft: Gott! Ein Engel ist gekommen! Wissen Sie, meine Dame, so etwas vergisst man nicht. Ich bin dann noch einige Male vond er Kirche nach Russland geschickt worden und habe das Land t kennen gelernt. Und da ist mir erst bewusst geworden, was uns mein Russischdozent damals gesagt hat: Ihr lieben Studenten werden noch erfahren, wie wichtig dir russische Sprache ist. Lernt! Lernt!
Würden Sie heute gern noch einmal nach Russland fahren?
Das wäre schön. Aber ich würde auch gern noch einmal nach Frankreich fahren.
Herr Götz, eine Frage hätte ich am Ende noch: Würden Sie in Ihrem Leben alles noch mal genauso machen?
Musik hat mich interessiert, aber vielleicht hätte es nicht ganz gereicht. Ich denke, ich würde wieder Pastor werden, obwohl es eine harte Arbeit ist. Wissen Sie: Trauungen habe ich sehr gern gemacht, wenn eine Frau schön geschmückt in die Kirche kommt, die kleinen Mädchen vorneweg und so weiter, und ich bin ihnen entgegengekommen, habe sie in die Kirche geführt, habe gepredigt, sie gesegnet, das war immer schön. Aber ich habe in meinem Leben auch viele Menschen beerdigen müssen. Es war mir immer schwer. Ich musste bei jeder Beerdigung gebetet, Gott gib mir Kraft, dass ich am Grab Trost spenden kann. Auch wenn mir jemand sein Herz ausschüttet, bewegt mich das bis in die Nacht hinein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Überraschende Wende in Syrien
Stunde null in Aleppo
Liberale in der „D-Day“-Krise
Marco Buschmann folgt Djir-Sarai als FDP-Generalsekretär
Trumps Wiederwahl
1933 lässt grüßen