Parteitag in Berlin: Die SPD bleibt unberechenbar
Die Wahlschlappe der Parteichef*innen Giffey und Saleh stellt die Berliner SPD vor ein grundlegendes Problem: Was will sie eigentlich?
M an muss sich die Umstände noch mal ins Gedächtnis rufen, um die ganze Dimension dieser Schlappe für Franziska Giffey und Raed Saleh zu begreifen. Sie haben die SPD mit einem pointierten Wahlkampf von einer fast aussichtslosen Position aus erneut ins Rote Rathaus geführt und damit vielen Parteigenoss*innen einflussreiche Posten beschert; Giffey macht bisher aus Sicht der SPD eine fast fehlerlose Arbeit als Regierende; auf dem Parteitag gab es keine Gegenkandidat*innen. Und trotzdem erreichen weder Giffey noch Saleh bei ihrer Wiederwahl auf dem Parteitag am Sonntag 60 Prozent. Ein Debakel.
Von Saleh ist der Satz überliefert, dass seine Partei ihn nicht mit Zustimmung bei Wahlen verwöhne. Trotzdem hatten Giffey und auch er sich deutlich mehr erwartet. Was denn sonst wäre die Alternative gewesen?
Was Inhalte angeht, müssen sich Giffey und Saleh genau das fragen. Ist der von Giffey im Wahlkampf eingeschlagene konservativere Kurs etwa in der Verkehrspolitik eine Sackgasse? Wie wollen die beiden, wie Giffey am Sonntag lautstark ankündigte, die Innenstadt Berlins von den Grünen zurückerobern, wenn sie in wesentlichen Teilen der Partei keinen Rückhalt haben? Und wenn schon eine Regierungsbeteiligung die Basis nicht zufrieden stellt – was denn dann?
Die gleichen Fragen muss sich aber auch die Partei stellen. Die Sozialdemokrat*innen waren schon immer stark darin, ihre Position durch eigenes Handeln zu schwächen. Daran hat sich nichts geändert; die von Saleh und Giffey beschworene Geschlossenheit jedenfalls gibt es nicht. Dabei darf die SPD nicht vergessen: Der Erfolg der Wahl im September lag auch am Höhenflug der Bundespartei unter Olaf Scholz. Darauf kann die Partei für die Zukunft aber nicht bauen: Der Scholz-Zug hat an Fahrt verloren, die nächste Wahl findet nicht mehr parallel zur Bundestagswahl statt. Vielleicht sollte die SPD ernsthaft überlegen, freiwillig in die Opposition zu gehen nach mehr als 30 Jahren an der Macht in Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“