Parteitag der britischen Liberalen: Höhenflug in Gelb
Großbritanniens Liberaldemokraten träumen vom politischen Durchbruch. Sie bieten einen Anti-Brexit-Kurs und Überläufer aus anderen Parteien.
Die britischen Liberaldemokraten befinden sich im Höhenflug. Von 12 Sitzen im Parlament bei den Wahlen 2017 sind sie nach Übertritten von 6 Abgeordneten, je 3 von Labour und 3 von den Konservativen, auf heute 18 Unterhaussitze angewachsen.
Bei den Europawahlen im Mai überholten die „Lib Dems“ Konservative wie Labour und landeten mit 20 Prozent auf dem zweiten Platz. Sie haben sich mit Jo Swinson eine neue junge Parteichefin vom linken Flügel gegeben und sich auf ein unmissverständliches Bekenntnis zur EU festgelegt.
Der Brexit ist dieses Jahr in Bournemouth besonders wichtig. Die Parteiführung bewegt sich weg vom bisherigen Einsatz für ein zweites Brexit-Referendum: Sie will jetzt einfach den Austrittsantrag bei der EU zurückziehen. „Revoke Article 50“ heißt das im Brexit-Jargon.
Michael Steed, 79, zum Brexit-Streit
Das ist gewagt. Niall Hodson aus Wearside im Nordosten Englands, einer Brexit-Hochburg, warnt, dass eine derartige Position wenig Kompromissbereitschaft aufweise. Rhian O’Connor aus Greenwich nennt es gar spiegelbildlich zum Kurs Johnsons. Der ehemalige Abgeordnete Simon Hughes kritisiert, die Partei baue Mauern statt Brücken.
Michael Steed, 79-jähriger ehemaliger Professor für Politologie in Manchester und Parteimitglied seit 1958, sagt: „Ich war ein Kriegskind, und ich weiß, was ein uneiniges Europa bedeutet.“ Teile des Landes aber seien für die Liberaldemokraten kaum noch erreichbar. „Meine Furcht ist, dass es Millionen von unzufriedenen und erzürnten Menschen geben könnte, und zwar auf beiden Seiten. Deswegen bevorzuge ich ein zweistufiges Referendum mit verschiedenen Vorschlägen als besten Kompromiss.“
Dennoch wird dem Antrag „Revoke Article 50“ mit großer Mehrheit zugestimmt. Die neue Position sei klar, beständig und unterscheidbar, lobt der von Labour zu den Liberaldemokraten übergelaufene Abgeordnete Chuka Umunna.
Nur noch ein paar Prozentpunkte mehr …
Großbritanniens ewige dritte Kraft sieht sich an der Schwelle zur Macht. Nur weitere 5 Prozentpunkte der Stimmen, und man könnte 200 Parlamentssitze holen, heißt es. Sogar 2 Prozentpunkte mehr brächten 100 Sitze. Meinungsumfragen sehen die Lib Dems derzeit bei rund 20 Prozent, nur knapp hinter Labour.
Ummuna nennt die derzeitige politische Situation Großbritanniens „einen riesigen Kampf zwischen pluralistischer liberaldemokratischer Überzeugung und ausgetrocknetem Autoritarismus“.
Bei einer Nebenveranstaltung warnt jedoch Politikwissenschaftler Tim Bale von der Organisation „UK in a Changing Europe“ vor Übereifer. Zum einen sei es keineswegs evident, dass die Liberaldemokraten bei Wahlen den Durchbruch schafften. Zum anderen müssten die Lib Dems vorsichtig mit ihren Versprechungen sein. Vor den Wahlen 2010 versprachen sie, die Studiengebühren abzuschaffen – dann gingen sie in eine Koalition mit den Konservativen und fielen um, woraufhin sie fast komplett aus dem Parlament flogen. Bale warnt, dass das Versprechen „Revoke Article 50“ der Partei ebenso auf die Nase fallen könnte.
Und, fragt Bale, wie soll man verstehen, dass Jo Swinson jede Koalition mit Labour oder der Schottischen Nationalpartei ausschließt, nachdem die Lib Dems kein Problem damit hatten, von 2010 bis 2015 mit den Konservativen zu regieren, „die dem Land zehn Jahre Austerität brachten“?
Der Zulauf aus anderen Parteien macht die Basis nicht nur glücklich. Der Konservative Phillip Lee hat in der Vergangenheit gegen die medizinische Versorgung von HIV-positiven Asylsuchenden gestimmt, auch gegen die Homoehe. Jetzt sitzt er für die Liberaldemokraten im Parlament. Die Vorsitzende des LGBT+-Verbandes in der Partei, Jennie Rigg, und andere traten deswegen empört aus. „Wenn die Partei derartigen Auffassungen Raum bietet, ist sie nicht mehr mein Zuhause“, sagte Rigg.
Andere Neulinge in der Fraktion werden begrüßt: Chuka Ummuna und Sam Gyimah, beide haben westafrikanischen Familienhintergrund, und die jüdische Abgeordnete Luciana Berger, die Labour wegen Antisemitismus verließ. Für Berger repräsentieren die Liberaldemokraten heute jene Werte, deretwegen sie einst Labour beitrat: antirassistisch, international, offen.
Rod Lynch, karibischer Abstammung und Vorsitzender der Gleichberechtigungsgruppe der Lib Dems, erzählt, wie er seit 2002 gegen die Vorherrschaft der weißen Mittelklasse in der Partei ankämpft – aber „in den letzten 20 Monaten habe ich einen Wandel erkennen können“.
Eine der Neuen ist die Wirtschaftsdozentin Siobhan Benita, Tochter einer indischen Einwanderin und, wie sie sagt, eines Einwanderers aus Cornwall. Sie will als liberaldemokratische Londoner Bürgermeisterkandidatin nächstes Jahr Labour-Bürgermeister Sadiq Khan ablösen und verweist auf die Tatsache, dass bei den Europawahlen die Mehrheit der Londoner für die Liberaldemokraten stimmte. Sie spricht von konkreten Präventivmaßnahmen beispielsweise gegen Messerverbrechen. Sadiq Khan und seine Partei hätten versagt, erklärt sie.
Es gibt mehr als nur Brexit
Die Lib Dems wissen, dass sich ihre Politik nicht auf Opposition zum Brexit beschränken dürfen. Die aus Deutschland stammende Abgeordnete Wera Hobhouse hat einen der detailliertesten Pläne aller Parteien zur Klimaneutralität vorgestellt, „verantwortlich und nach wissenschaftlicher Erkenntnis durchführbar“, sagte sie. Er zieht das aktuelle britische Regierungsziel der Klimaneutralität von 2050 auf 2040 vor – die Grünen fordern das Jahr 2030, die Protestbewegung „Extinction Rebellion“ sogar 2025.
Den Wettlauf um Jahreszahlen vergleicht Keith Melton, Vizepräsident der „Green Lib Dems“, mit einem „Wettbewerb, wer am weitesten pissen kann“.
Am Ende des Parteitags findet die neue Parteiführerin Jo Swinson die richtigen Worte für die Stimmung. Boris Johnson nennt sie jemanden, „dessen Planung so aussieht, als wolle er sein eigenes Haus niederbrennen: Trotz Versicherung wird er alles verlieren.“ Jeremy Corbyn sei ein Brexiteer. Großbritannien brauche die Lib Dems: „Wir müssen unsere Chance jetzt ergreifen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker