Parlamentswahl in Großbritannien: Angst vor der Bauchlandung
Bei der Parlamentswahl müssen alle etablierten Parteien zittern. In den Umfragen liegen Konservative und die Labour-Partei gleichauf.
CAMBRIDGE taz | Irgendwann am frühen Freitagmorgen wird die nordenglische Industriestadt Sheffield Geschichte schreiben. Wenn Nick Clegg, Führer der britischen Liberaldemokraten und Vizepremier der amtierenden konservativ-liberalen Koalition, seinen Wahlkreis Sheffield-Hallam behält, gibt es die Chance, dass Großbritanniens bisherige Regierung im Amt bleibt. Sollte die Labour-Opposition aber Clegg den Sitz abjagen und ihn damit aus dem Parlament kegeln, stehen die Zeichen eher auf Linksregierung.
Weder Konservative noch Labour können bei den heutigen Parlamentswahlen auf eine eigene Mehrheit hoffen. Schon beim letzten Mal vor fünf Jahren war das so. Damals fanden Cameron und Clegg zusammen in einer blau-gelben Koalition. Für viele linksorientierte Liberale war dies ein Verrat.
Den Liberalen droht nun ein Massaker an der Wahlurne, viele werden strikt gegen eine zweite Rechtskoalition sein. Verschwindet Clegg, der Architekt der Koalition mit Cameron, steht bei den Liberalen eine Zeit der Selbstzerfleischung an. Laut Julian Huppert, liberaler Abgeordnete für Cambridge, wird ein Krisenkomitee mögliche Koalitionsgespräche steuern. Entscheiden muss dann die Basis, per Mitgliederentscheid oder Sonderparteitag. Und sie könnte sich eine neue, linke Parteiführung geben.
Während also normalerweise in Großbritannien gleich am Tag nach der Wahl feststeht, wer in Zukunft regiert, könnte es diesmal Wochen dauern. Cameron kann erst mal einfach weiterregieren, wenn er keine spektakuläre Bauchlandung hinlegt. Die Nagelprobe gibt es erst Ende Juni, wenn die erste Regierungserklärung zur Abstimmung im Parlament ansteht.
Jede Koalition ausgeschlossen
Milibands Lage ist komplizierter. Jahrelang ging der Labour-Chef davon aus, dass der unvermeidliche Popularitätsverlust von Cameron und Clegg ihn 2015 quasi automatisch ins Amt spült. Aber die schottische SNP hat diesen Plan über den Haufen geworfen. Sie trumpft stark auf und dürfte Labour fast alle schottischen Wahlkreise abnehmen. Labour muss jetzt in England über 40 Sitze dazugewinnen, um überhaupt noch auf plus/minus null zu kommen.
Sollte es für Labour und Liberale zusammen nicht zur Mehrheit reichen, könnte es dennoch eine rechnerische Labour-SNP-Mehrheit geben. Die Parteien sind sich allerdings in Schottland spinnefeind. Labour schließt jede Koalition oder Tolerierung aus. Eine Labour-Minderheitsregierung müsste dann vor jedem Parlamentsvotum die Bedingungen einer Zustimmung anderer Parteien aushandeln.
„Wir können Großbritannien vom Chaos eines von der SNP gestützten Ed Miliband retten“, schrieben die Konservativen am Mittwoch in einer E-Mail-Botschaft. „Wählt für euch und eure Familien“, twitterte Miliband in Reaktion: „Wenn ich Premierminister bin, werde ich für die arbeitenden Menschen eintreten.“
Die SNP, Grüne und walisische Nationalisten sehen sich als das künftige linke Gewissen im Parlament, das Labour auf Kurs halten will. Bisher will Labour den aktuellen Sparkurs bloß abmildern, nicht beenden: Das strukturelle Haushaltsdefizit soll jedes Jahr sinken. Die linken Kleinparteien fordern dagegen einen Kurswechsel und eine Ausweitung der öffentlichen Ausgaben.
Weiter sparen
Camerons Konservative wollen weiter sparen und das Haushaltsdefizit binnen zwei Jahren auf null führen. Über die nächsten fünf Jahre summiert sich der Unterschied zwischen Labour und den Konservativen bei den geplanten Staatsausgaben auf 90 Milliarden Pfund (120 Milliarden Euro). Das setzt die Konservativen der Anschuldigung aus, sie planten neue, gigantische soziale Einschnitte. Die wiederum behaupten, nur ihre Wirtschaftspolitik garantiere gute Wirtschaftsdaten und steigende Steuereinnahmen. Großbritannien hat derzeit die höchste Wachstumsrate aller G-7-Länder und in den vergangenen Jahren mehr neue Arbeitsplätze geschaffen als die gesamte Eurozone, lobt sich die Regierung.
Die Liberalen sind auch stolz auf diese Bilanz, verweisen aber auf Billiglöhne und Steuerungerechtigkeit. Sie sehen sich für beide Großparteien als Korrektiv: Einer Rechtsregierung würden sie das Herz zuliefern, einer Linksregierung das Hirn, lautet die aktuelle, leicht überhebliche Formel. Ihre „rote Linie“ für Koalitionsgespräche: mehr Geld für Bildung und Gesundheit sowie Steuererleichterungen für Geringverdiener. Ersteres geht eher mit Labour, Letzteres eher mit den Konservativen.
Alle etablierten Parteien haben ein massives Glaubwürdigkeitsproblem vor allem bei Jungwählern. Wer heute in Großbritannien aufwächst, hat es zumeist schwerer als die Eltern und Großeltern. In den letzten zehn Jahren hat sich sowohl die britische Staatsschuld als auch die Zahl der britischen Milliardäre verdreifacht. Beide Großparteien haben in dieser Zeit jeweils fünf Jahre regiert; beide weigern sich, in diesen Entwicklungen ein Problem zu erkennen.
Die Konservativen versprechen nun ein Gesetz, das Steuererhöhungen verbietet, was Ökonomen als Irrsinn abtun. Labour-Chef Miliband hat seine Wahlversprechen buchstäblich in Stein gemeißelt – er enthüllte am Wochenende eine Steinplatte mit fünf Labour-Parolen samt eingemeißelter Unterschrift. Bei einem Wahlsieg will er den Stein im Garten von 10 Downing Street aufstellen.
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