Paläontologie und Postkolonialismus: Kulturelles Erbe Saurierknochen
Jahrzehnte landeten Fossilien aus Afrika im Westen in naturkundlichen Sammlungen. Nun soll der Kolonialismus in der Wissenschaft überwunden werden.
Als Kind hatte Hesham Sallam keinen Lieblingsdino. Genau genommen habe er nicht einmal gewusst, dass es die Urzeittiere überhaupt jemals gab, erzählt der erste Professor für Paläontologie in Ägypten. Anders als die Zeit der Pharaonen fehlten Dinosaurier lange im kollektiven Gedächtnis des Landes. Es gab hier keine Dino-Kinderbücher oder Spielzeug, keine Lehrstühle für Paläontologie.
Dabei mangelt es dem Land keineswegs an spektakulären Funden. Vor über 100 Jahren wurde hier der Spinosaurus aegyptiacus entdeckt. Mit seinem Rückensegel und dem krokodilähnlichen Maul gehört der fischfressende Raubsaurier zu den bekanntesten Urzeitreptilien und bevölkert heute unzählige Kinderzimmer weltweit. In Ägypten kannte ihn lange Zeit kaum jemand. Anfang des 20. Jahrhunderts brachte der deutsche Paläontologe Ernst Stromer seine und unzählige andere versteinerte Knochen außer Landes. Die meisten davon landeten in der Bayerischen Staatssammlung. Im Zweiten Weltkrieg zerstörte eine Fliegerbombe große Teile des Museums, mit samt der Knochen des Spinosaurus. Erst ein fast vollständiges Skelett aus Marokko brachten ihn 2008 zurück ins paläontologische Rampenlicht.
Ähnlich wie dem Spinosaurus geht es auch dem afrikanischen Kontinent. Erst in den letzten drei Jahrzehnten kamen wieder mehr Forschende, um in Tansania, Äthiopien oder in der Sahara nach Fossilien zu graben. Wo sich heute eine schier endlose Wüste erstreckt, gab es vor Millionen von Jahren zeitweise Meere und fruchtbare Flussregionen – hier lebten vierbeinige Vorfahren heutiger Wale, Raubfische aller Größen, gewaltige Langhalssaurier, die größten Krokodile, die je auf dieser Erde wandelten.
Wissenschaftlicher Kolonialismus
„Wir kennen bisher nur einen kleinen Teil der Dinosaurier und Urzeittiere, die einmal in Afrika lebten. Wir werden also noch viele spannende Entdeckungen in der Wüste machen“, sagt Sallam. Jeder dieser Funde sei von unschätzbarem Wert, füge er doch dem Verständnis der prähistorischen Welten ein weiteres, wichtiges Puzzlestück hinzu. Gleichzeitig wirft das neuentflammte Interesse eine wichtige Frage auf: Wie können die Fossilien Afrikas erforscht werden, ohne das koloniale Erbe noch auszuweiten?
Wie stark dieses unrühmliche Erbe nachwirkt, zeigt ein Forschungsprojekt der Universität Nürnberg-Erlangen. Nussaibah Raja-Schoob und ihr Team untersuchten dabei paläontologische Forschungsdaten aus den letzten 30 Jahren. Ihr Ergebnis: 97 Prozent aller Daten in der Paleobiology Database (PBDB), einer Datenbank zur Erfassung wissenschaftlich dokumentierter Fossilienfunde, stammen von Forschenden aus wohlhabenden Ländern.
„Der wissenschaftliche Kolonialismus ist also noch lange nicht überwunden. Noch immer sind es vor allem westliche Forschende, die in den Ländern des Südens nach Fossilien graben und diese auch untersuchen“, sagt Raja-Schoob.
Die Beteiligung lokaler Forschender aus Afrika sei eher die Ausnahme als die Regel, ebenso wie die Rückführung der Funde. Hinzu komme ein erschwerter Zugang zur wissenschaftlichen Welt. Die Kosten für die Veröffentlichung in Fachzeitschriften, die Teilnahme an Konferenzen oder eigene Feldforschung sind in Ländern, in denen Hochschulen kaum oder gar keine staatliche Unterstützung bekommen, schwierig zu stemmen. „Ein wissenschaftlicher Austausch auf Augenhöhe ist unter diesen Bedingungen kaum möglich“, sagt Raja-Schoob.
Umso wichtiger sei ein ehrliches Engagement westlicher Forschungsinstitutionen auf dem afrikanischen Kontinent. Stipendienprogramme sollten die Ausbildung von lokalen Forschenden und den Aufbau von Museen und Lehrstühlen fördern. Neue Funde könnten so direkt in den Herkunftsländern ausgestellt und erforscht werden. Außerdem würden mehr Menschen Fossilien als schützenswertes Kulturgut betrachten und sich für ihren Erhalt engagieren. Auch die leidige Frage der Rückführung kolonialer Funde wäre beantwortet. Mit entsprechenden Einrichtungen bestünde nicht mehr die Gefahr, dass wertvolle Fossilien in einem staubigen Keller landen, wo niemand etwas mit ihnen anfangen kann. Doch ein solch tiefgreifender Wandel braucht Zeit, wie der Blick nach Ägypten zeigt.
Wertschätzung in der Bevölkerung
Fossilien stehen hier inzwischen unter dem Schutz des Gesetzes. Das Land dürfen sie ohne explizite Genehmigung nicht mehr verlassen. Für Ausgrabungen in der Wüste brauchen ausländische Forschende eine Erlaubnis. An der Mansoura Universität entstand der erste Lehrstuhl für Paläontologie, unter Leitung von Hesham Sallam.
Der renommierte Paläontologe studierte und forschte in England und den USA und kehrte für die Professur zurück in die Heimat. 2011 hielt er die erste Vorlesung über Wirbeltierpaläontologie, unter den Studierenden war auch Sanaa El-Sayed, heute ebenfalls Pionierin in diesem Fach. Als erste Paläontologin aus dem Nahen Osten veröffentlichte sie einen Artikel in einem wissenschaftlichen Journal, als Erstautorin wohlgemerkt.
Paul Sereno, Paläontologe
Derzeit promoviert sie über Fischfossilien an der renommierten University of Michigan. Danach soll sie ebenfalls an die Hochschule zurückkehren, als Professorin für Paläontologe und Kuratorin des ersten Naturkundemuseums des Landes. Der Bau ist seit Jahren in Planung. Läuft alles nach Plan, könnten hier zukünftig die Fossilien des Landes an prominenter Stelle ausgestellt und erforscht werden – einen Grund, sie außer Landes zu bringen, gebe es damit nicht mehr.
Mindestens genauso wichtig sei die gestiegene Aufmerksamkeit und Wertschätzung innerhalb der Bevölkerung, sagt Sallam. „Vor einigen Jahren haben wir mit dem Mansoursaurus einen großen Langhalssaurier entdeckt und beschrieben. Die mediale Aufmerksamkeit war immens.“ Seither bekommt der Paläontologe viele Nachrichten von Kindern, die mehr über Dinos wissen oder sogar selbst Forscherin oder Forscher werden wollen. Auch in den Grundschulbüchern gibt es inzwischen ein Kapitel über Fossilien. Hält dieses Interesse an, wären Nachwuchssorgen dahin – jedenfalls in Ägypten.
Ein weiterer Hotspot für Fossilienjäger ist der Niger. Zweidrittel des Landes sind von Wüste bedeckt, inmitten von ihr liegen unzählige versteinerte Knochen von großen und kleinen Dinosauriern, riesigen Krokodilen und frühen Menschen. Wenn es nach Paul Sereno geht, könnten diese Funde zukünftig Platz in zwei der modernsten Museen der Welt finden – dem Museum of the River in der Hauptstadt Niamey und dem Museum of the Living Desert in der Oase Agadez. Der US-Paläontologe gräbt seit über zwei Jahrzehnten regelmäßig in der Sahara.
Wissenchaftliche Ambitionen
„Ich habe ein Abkommen, nicht nur mit der Regierung des Landes, sondern auch ein ungeschriebenes Abkommen mit den Fossilien selbst. Ich möchte, dass ihre unglaubliche Geschichte in den nigrischen Museen erzählt wird, um das nationale Bewusstsein für das eigene Erbe zu steigern und Menschen aus der ganzen Welt in dieses wunderschöne Land zu locken“, erklärt er.
Auch wissenschaftlich sind seine Ambitionen groß, in den Museen sollen moderne Labore für Forschende entstehen, ein eigenes Studienprogramm für junge Menschen aus der Region ist geplant. Schon heute sind an seinen Ausgrabungen stets auch lokale Forschende beteiligt. Alle dabei gemachten Funde werden zwar in Chicago präpariert, untersucht und als digitale Abbilder gesichert. Gleichzeitig gibt es die Garantie, dass sämtliche Knochen im Niger ausgestellt und für Forschende zugänglich gemacht werden.
Außerdem ist er an einem Förderprogramm beteiligt, das jungen Doktoranden aus dem Niger einen Forschungsaufenthalt in Paris ermöglicht. In Frankreich liegen viele paläontologische Funde des Landes, gleichzeitig gibt es keine Sprachbarrieren. „Diese Art der Dekolonisierung ist aus meiner Sicht nachhaltiger als eine simple Rückgabe einst geraubter Fossilien. Ohne die passende Infrastruktur und die Fachleute im Land droht die Zerstörung wertvoller Stücke“, sagt Sereno. Gelinge aber ein Aufbau mit Geduld und Bedacht, könne davon die Wissenschaftsgemeinschaft profitieren – durch neue Daten, durch neue Fossilien, durch neue Erkenntnisse.
Denn auch das ist ein Teil der Wahrheit: Eine westliche Dominanz zeigt sich nicht nur bei den Verfassenden der Publikationen, sondern auch in ihren Daten, die meisten stammen aus Europa oder Nordamerika. Blicken wir zum Verständnis der Dinosaurier und ihrer Welt aber vor allem auf diese Regionen, verzerrt sich unser ohnehin fragmentiertes Bild der prähistorischen Welt und unzählige spannende Dinosaurier haben nie Chancen, Kinderzimmer und Fachbücher zu erobern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen