Pädagogin über patriarchale Gewalt: „Der entscheidende Faktor ist nicht, wie kurz der Rock war“
Jana Baumann wurde im Arbeitsumfeld vergewaltigt. In ihrem Buch „Unsagbar“ erklärt sie, warum sexualisierte Gewalt ein gesellschaftliches Problem ist.
taz: Frau Baumann, warum fällt es Betroffenen von sexualisierter Gewalt so schwer, darüber zu reden?
Jana Baumann: Weil wir sexualisierte Gewalt nicht als gesamtgesellschaftliches Problem begreifen, sondern als Ansammlung von Einzelfällen. Sexualisierte Gewalt ist mit Schamgefühlen verbunden, sie bleibt ein Tabu. Und Tabus zu brechen kostet Kraft – eine Kraft, die viele Betroffene in dem Moment einfach nicht aufbringen können.
taz: Ist es bequemer, sexualisierte Gewalt zu individualisieren, als mit der Ohnmacht leben zu müssen, dass man sich nicht vor ihr schützen kann?
Jahrgang 1980, ist Diplom-Pädagogin und Unternehmensberaterin. Nachdem sie im Arbeitskontext vergewaltigt wurde, hat sie mit der Traumatherapeutin Anne Roth als Co-Autorin „Unsagbar“ (Mosaik Verlag, 2024) geschrieben.
Baumann: Ja. Ich hätte nie gedacht, dass mir das mal passiert. Ich bin 1,80 groß und ich agiere in den meisten Kontexten sehr selbstbewusst. Aber es kann eben jeder Person passieren. Dass sich jemand entschieden hat, Gewalt auszuüben und man selbst keine Mittel hatte, sich dagegen zu wehren beziehungsweise sich jemand mit Macht und Brutalität darüber hinweggesetzt hat, ist schwer auszuhalten. Wir haben als Gesellschaft viele Vergewaltigungsmythen internalisisert, Mythen, die zur Täter-Opfer-Umkehr führen.
taz: Was sind Vergewaltigungsmythen?
Baumann: Sie sind der gesellschaftliche Versuch, einfache Antworten auf komplexe Fragen zu finden: der dunkle Park, der Minirock, Alkohol. Auch beim Täterbild sind es oft rassistische Mythen, die immer wieder reproduziert werden. Dabei ist die Realität, dass rund 80 Prozent der Betroffenen den Täter kannten und das persönliche, nahe Umfeld für viele der gefährlichste Ort ist. Der entscheidende Faktor ist nicht, wie kurz der Rock war, sondern wie wenig Macht eine Person grundsätzlich oder in der Situation hat. Je marginalisierter eine Person ist, umso höher ist die Gefahr, dass sie von Gewalt betroffen ist.
taz: Laut Statistiken werden nur circa zehn Prozent aller Vergewaltigungen angezeigt. Auch Sie haben sich gegen eine Anzeige entschieden. Was läuft falsch im Rechtssystem?
Baumann: Im Rechtssystem spielen benannte Mythen und patriarchale Überzeugungen leider noch eine große Rolle und äußern sich in Fragen, die eine Mitschuld suggerieren. Für mich fühlt sich dieser Raum nicht wie ein Schutzraum an. Und die Chancen, dass es überhaupt zu einem Prozess kommt, geschweige denn zu einer Verurteilung sind verschwindend gering. All das ermutigt wenig. Insgesamt muss sich strukturell eine ganze Menge verändern. Polizei, Justiz und auch medizinische Einrichtungen sind viel zu wenig sensibilisiert. Auch juristisch tragen wir viel zu wenig zum Gewaltschutz bei.
Lesung von „Unsagbar“: Mi, 26.11., 19.30 Uhr, Kölibri, Hein-Köllisch-Platz 12, Hamburg. Eintritt frei
Demos am Tag gegen patriarchale Gewalt am Di, 25.11.: Bremen: 17.30 Uhr, Leibnizplatz; Hamburg: 18 Uhr, S-Bahn Landwehr; Kiel: 17 Uhr, Stresemann-Platz; Osnabrück: 17.30 Uhr, DGB-Haus
taz: Diese sehr persönliche Aufklärungsarbeit leisten Sie neben Ihrem Job als Unternehmensberaterin. „Unsagbar“ haben Sie unter Ihrem Klarnamen veröffentlicht und Sie haben sogar auf Ihrem LinkedIn-Profil Posts darüber gemacht. Das war sicherlich sehr unbequem für viele Menschen, insbesondere für Sie. Warum haben Sie sich für diesen Weg entschieden?
Baumann: Es war ein langer Weg von der Betroffenen zur Autorin und dann zur Aktivistin. Je mehr ich über die Tat und die juristische Realität gelernt habe, desto klarer wurde mir: Wir müssen die Gesellschaft belasten, um Betroffene zu entlasten. Und dafür müssen wir sprechen. Ich bin eine sehr privilegierte Frau, das macht es mir möglich, zu sprechen. Viele andere können das nicht. Mir war klar: Sobald ich das poste, liegt diese Geschichte auf den Frühstückstischen meiner Kolleg*innen. Das hat Überwindung gekostet. Aber sie ist eben Teil meines Lebens. Und ich kann trotzdem ein glückliches Leben führen und meinen beruflichen Weg weitergehen. Auch damit möchte ich aufräumen: mit der Vorstellung, wie „Opfer“ zu sein haben. Letztendlich hat sich dieser Schritt unglaublich befreiend angefühlt. Jetzt ist die Geschichte draußen. Sie liegt nicht mehr nur auf meinen Schultern.
taz: Am 25. November ist der Tag gegen patriarchale Gewalt. Was muss sich ändern?
Baumann: Lasst uns sexualisierte Gewalt endlich als gesamtgesellschaftliches Thema begreifen. Wir brauchen Aufklärungsarbeit darüber, wo Gewalt stattfindet und was sie verursacht. Wir müssen anfangen, Gewalt ernsthaft zu verurteilen. Das fängt schon bei verbalen Belästigungen und Erniedrigungen an, die oft noch weggelacht werden. Wir müssen auch etwas gegen tradierte Rollenbilder tun, die patriarchale Strukturen weiter stärken. Ein Grund, warum nur etwa fünf bis zehn Prozent der Betroffenen sexualisierte Gewalt überhaupt anzeigen, liegt daran, dass die Strukturen fehlen, die ihnen Sicherheit geben. Neben Prävention brauchen wir also kostenlose, niedrigschwellig erreichbare Fachberatungsstellen und endlich ausreichend Plätze in Frauenhäusern. Wir müssen da hinschauen, wo es unbequem ist, sprechen, statt zu tabuisieren und als Gesamtgesellschaft Verantwortung übernehmen.
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